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Wenn Pflanzen sprechen könntenMein Freund, der Avocadobaum

Seit 17 Jahren lebt unsere Autorin mit ihrem Avocadobaum zusammen, kein Mensch war ihr so treu. Eine Liebesgeschichte.

Balkon mit Bäumchen: zu Hause bei unserer Autorin Foto: Naïma Erhart

Eines Abends, als ich nach Hause kam, fand ich ihn tot auf dem Balkon. Ein ­armes Skelett aus Holz, lang und dünn, komplett nackt neben saftigen To­maten, blutrotem Hibiskus, wild gewachsenen Löwenzähnen. Er war schon heimgesucht ­worden, krank, traurig. Doch tot? Ich hatte meinen Avocadobaum nur ein paar Tage nicht gegossen. Ich konnte mir nicht erklären, wie es dazu kommen konnte, und hockte lange trostlos vor der blattlosen Figur. In 17 Jahren unseres Zusammenlebens war so etwas noch nie passiert.

Mit keinem Lebewesen habe ich so lange gewohnt, kein Mensch war mir so treu. Sieben Umzüge hat er mit mir gemacht, war stummer Zeuge von Liebeskummer, Trennungen, Partys. Was würden Pflanzen und Blumen über uns erzählen, könnten sie sprechen? Ich konnte mich mit dem Tod des Baums nicht abfinden und gab ihm weiterhin Wasser. Nach einer Weile entdeckte ich das erste frische Blatt. Ein kleiner Sprössling, ein winziger grüner Knospenansatz, ein Wunder! Er lebte wieder.

Seit dem Zwischenfall auf dem Balkon geht es dem Avocadobaum bestens, als wäre es auch für ihn eine Grenzerfahrung gewesen, tot zu sein. Neulich merkte ich auf einmal, dass er größer geworden ist. So groß, dass mein Kopf perfekt auf seiner Brust liegen würde, er mich umarmen könnte – hätte er nur eine Brust. Bis zu drei Meter groß kann er im Topf noch werden, lese ich nach. Ein richtiger Baum also.

Als ich ihn damals aus einer Mülltonne im Hinterhof rettete, war er nur eine 15 Zentimeter große Zimmerpflanze. Jemand hatte ihn aussortiert, ich putzte ihm vorsichtig die Blätter und fand einen Platz für ihn neben dem alten Fernsehapparat. Ich war gerade aus meinem Heimatland Argentinien nach Münster gezogen. Warum Menschen Dinge (und Pflanzen!) mit einem „Zu verschenken“-Zettel auf die Straße stellten, war mir ein Rätsel. Ich hatte das noch nie gesehen. Dass Avocadobäume als Zimmerpflanzen existieren, war mir auch neu.

Arten, die Heimweh auslösen

Warum besitzen wir „exotische Pflanzen“? Kakteen wie im Süden der Vereinigten Staaten, Weinreben wie in einer Trattoria mit Meerblick in Italien, knallpinke Bougainvilleen wie in einem Dorf in Griechenland? Welche Sehnsüchte rufen sie hervor?

In meinem Fall sind es nicht Avocadobäume, sondern andere Arten, die Heimweh auslösen oder Erinnerungen wecken. Die Jacaranda-Bäume zum Beispiel, die Straßen und Parks von Buenos Aires mit lila Blüten tapezieren. Oder die Stacheln der aufgequollenen Stämme des Palo Borracho („betrunkener Baum“), an die sich niemand anzulehnen wagt. Und natürlich die Enamorada del Muro (Kletterfeige) und die Madreselva (Geißblatt), duftende Pflanzen, deren Nektar wir als Kinder wie Sirup aussaugten – eine Süßigkeit, für die wir kein Geld brauchten.

Während ich am Küchentisch arbeite, sehe ich den Avocadobaum aus dem Augenwinkel auf dem Balkon an seinem Lieblingsplatz, hinter dem Liegestuhl. Noch nass vom Sturm in der Nacht steht er da, ganz grün, voller neuer Blätter.

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