Menschenrechte in Lettland: Riga zieht sich aus Istanbul-Konvention zurück
Eine Mehrheit im Parlament stimmt für einen Austritt Lettlands aus dem Frauenschutzabkommen des Europarates. Jetzt ist der Präsident am Zug.
 
Für all diejenigen, die sich in Lettland den Menschenrechten verpflichtet fühlen, dürfte der Donnerstag dieser Woche ein schwarzer Tag gewesen sein: Nach einer über 13-stündigen Debatte stimmte das Parlament (Saeima) in zweiter Lesung für einen Austritt des baltischen Staates aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention.
Die 2011 vom Europarat verabschiedete Konvention verpflichtet in ihren 81 Artikeln alle Unterzeichnerstaaten zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter*innen.
Für den Austritt aus der Konvention votierten 56 Abgeordnete, dagegen 32, zwei enthielten sich. Zehn Volksvertreter*innen hatten sich für die Abstimmung gar nicht erst registrieren lassen. Zu den Befürworter*innen gehören nicht nur fünf Oppositionsparteien, sondern auch das „Bündnis der Bauern und Grünen“ (ZZS), das mit in der Dreier-Koalition von Ministerpräsidentin Evika Siliņa sitzt.
Eingebracht hatte die Gesetzesvorlage die rechtpopulistische Partei Lettland zuerst (LTV), die sich unter anderem für traditionelle Familienwerte einsetzt. Zur Begründung hieß es, dass die derzeitige Umsetzungspraxis der Istanbul-Konvention kein Vertrauen in staatliche und kommunale Institutionen schaffe, Gewalt und damit verbundene Risiken zu verhindern. Die Regierungspartei ZZS hatte argumentiert, dass die Konvention die Gesellschaft spalte. Um gegen häusliche Gewalt effektiv vorzugehen, reichten bestehende nationale Gesetze aus.
Flaggen der LGBTQ+-Bewegung
Am Mittwochabend fand in der Hauptstadt Riga eine der größten Kundgebungen der vergangenen Jahre statt. Laut Polizeiangaben hatten sich rund 5.000 Demonstrant*innen vor dem Parlament versammelt, um für den Verbleib des Landes in dem internationalen Vertrag zu protestieren. Den hatte Riga bereits 2016 unterschrieben, jedoch erst 2024 ratifiziert. Am 1. Mai vergangenen Jahres trat er in Kraft.
Einige Demonstrierende hatten Flaggen Lettlands, der EU sowie der LGBTQ+-Bewegung dabei. Zu hören waren Slogans, wie: „Hände weg von der Istanbul-Konvention!“, „Lettland ist nicht Russland. Wenn Du liebst, dann schlag nicht zu!“, „Indem wir Russland kopieren, verteidigen wir Lettland nicht!“ sowie „Populismus zerstört, die Konvention schützt!“
Initiatorin des Protestes am Mittwoch war die Nichtregierungsorganisation MARTA-Zentrum. Sie setzt sich für die Rechte von Frauen ein und bietet seit 2000 professionelle soziale, rechtliche und psychologische Unterstützung für Opfer von Gewalt und Menschenhandel an.
Ein Austritt aus der Istanbul-Konvention, warnt das MARTA-Zentrum, käme einer Abkehr von den Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte gleich. Er sende ein gefährliches Signal aus, dass der Staat bereit sei, Gewalt und Ungleichheit zu ignorieren.
„Diese Initiative wird auch als politisches Instrument missbraucht, um Transgender-Personen und andere schutzbedürftige Gruppen ins Visier zu nehmen, indem fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, ihre Rechte bedrohten die Gesellschaft. Tatsächlich stärkt die Inklusion und der Schutz dieser Gruppen die Demokratie und die allgemeine Sicherheit“, heißt es in einer Erkärung des MARTA-Zentrums. Diese Kritik findet offensichtlich Gehör. Auf dem Portal Manabalss.lv haben bereits mehr als 20.000 Personen eine Petition für den Verbleib Lettlands in der Istanbul-Konvention unterschrieben.
Zehn Tage Zeit
Jetzt ist Lettlands Präsident Edgars Rinkēvičs am Zug. Der 52-jährige wurde 2023 gewählt und hatte 2014 als damaliger Außenminister seine Homosexualität öffentlich gemacht. Rinkēvičs hat jetzt zehn Tage Zeit, um das Gesetz mit seiner Unterschrift in Kraft zu setzen. Tut er das nicht, kann er das Gesetz dem Parlament zur erneuten Lesung vorlegen. In diesem Fall leitet die Saeima seine Einwände ohne Debatte an den zuständigen Ausschuss weiter und beschließt über die Frist für die Einreichung von Vorschlägen und eine erneute Prüfung des Gesetzes.
Sollte das Parlament das Gesetz nicht ändern, kann der Präsident keine weiteren Einwände erheben, jedoch die Veröffentlichung des Gesetzes für zwei Monate aussetzen. Dann muss die Zentrale Wahlkommission mit der Sammlung von Unterschriften für ein Referendum zur Aufhebung des Gesetzes beginnen. Innerhalb von 30 Tagen müssten dafür mehr als 154.000 Bürger*innen unterschreiben – wie vorgeschrieben mindestens ein Zehntel der Wahlberechtigten bei der letzten Parlamentswahl.
Zudem besteht die Möglichkeit, das Verfassungsgericht mit der Causa zu befassen. Zwei Regierungsparteien, Progressive und Neue Einheit (JV) haben bereits erkklärt, diese Option zu unterstützen. Dann entscheidet das Senat des Verfassungsgerichts, ob ein Verfahren eingeleitet wird. Dies wäre ein Präzedenzfall, da das lettische Verfassungsgericht bisher noch keinen Fall verhandelt hat, der die Kündigung eines unterzeichneten internationalen Vertrags betrifft.
Appelle aus dem Ausland
Dass sich Rinkēvičs widerständig zeigt, darauf hofft auch das Ausland. Die Mitgliedsstaaten der Organisation Nordisch-Baltisch Acht (NB8) hatten unlängst Lettland aufgefordert, nicht aus der Konvention auszutreten. Ähnlich hatten sich auch 15 Botschafter*innen von EU-Staaten in einem Brief geäußert.
„Lettland ist nun neben der Türkei das zweite Land, das aus der Konvention ausgetreten ist. Auf derselben Stufe der Menschenrechtspolitik wie die Türkei zu stehen, wirft wohl kein gutes Licht auf uns“, heißt es in einem Kommentar des lettischen Nachrichtenportals LSM.lv.
„Lettland wird als rückständiges Land abgestempelt werden, das in Sachen häuslicher Gewalt und Frauenrechte etwas zu verbergen haben muss. Man kann davon ausgehen, dass der vielgeliebte Begriff „post-sowjetisch“ ein Comeback feiern wird. Dreißig Jahre eines sich stetig verbesserten internationalen Ansehens wurden durch das neuartige Verständnis des Völkerrechts der Saeima untergraben.“
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