Mexikanische Kampfkunst in Berlin: Maskierte Akrobaten und spektakuläre Würfe
Die mexikanische Lucha Libre ist im Berliner Tempodrom zu Gast. Sie ist eine sehr besondere Mischung aus Sport, Theater, Kampf und Kunst.
Noch steht der Ring inmitten des Tempodroms leer. Doch die zu großen Teilen bunt maskierten, Selfies machenden Zuschauer lassen darauf schließen, dass hier gleich die ganz große Show stattfindet. Heute finden hier zeitgleich zu einem der wichtigsten mexikanischen Feiertage – dem Día de los Muertos – gleich mehrere Wettkämpfe in einer der beliebtesten Sportarten Mexikos statt: Lucha Libre.
Lucha Libre heißt auf Deutsch so viel wie Freistilkampf. Gemeint ist mexikanisches Wrestling, ein Showkampf, der sich aus dem Zirkuskampf und dem Ringen im griechisch-römischen Stil entwickelte. In den 1930ern wurde daraus ein eigenständiger Wettkampf, besser gesagt: eine Art Kampf-Akrobatik-Show. Denn die Choreografien stehen wie beim US-amerikanischen Wrestling schon vorab genauso fest wie die Gewinner. Was das Spektakel aber nicht weniger beliebt macht.
Das Charakteristische sind vor allem die Stoffmasken der Luchadores, der Kämpfer. Sie sind Teil ihrer Identität, ihrer Figur, die sie nicht nur im Ring verkörpern, meist treten sie auch in der Öffentlichkeit maskiert auf.
Das Lucha-Libre-Event im Tempodrom wird als „familienfreundlich“ beworben, und in der Tat sind viele begeisterte Kinder dabei, die ihre Helden anfeuern. Aber nicht nur von den Kindern wird manch ein Luchador in Mexiko wie ein Superheld gefeiert. Die größte Lucha-Legende ist wohl „El Santo“, der 1984 in seiner silbernen Maske begraben wurde und dessen Beerdigung zu den größten der mexikanischen Geschichte gehört.
Akrobatische Salti und Würfe
Es gibt sogar Comicstrips und Superheldenfilme von und mit ihm. In Berlin tritt sein Sohn El Hijo del Santo an, ein alternder Superheld, der mit 62 zum ersten und letzten Mal in Berlin kämpft. Am 13. Dezember beendet er seine Karriere. Die dynastische Nachfolge wird wohl sein Sohn Santo Jr. übernehmen, der heute an seiner Seite kämpft.
Die Show beginnt. Der Ringsprecher steigt unter lautem Jubel und Musik in den Ring. Spricht zwei Sätze Deutsch und dann nur noch Spanisch. Er erklärt die „Regeln“: es kämpft immer gut gegen böse, die sogenanntegn „rudos“, also die „Groben“, die auch unfair kämpfen und in der Regel vom Publikum ausgebuht und beschimpft werden, gegen die „técnicos“. Das sind die, die sich an die Regeln halten und angefeuert und verehrt werden. Wer seinen Gegner zu Boden stürzt und ihn drei Sekunden halten kann, gewinnt die Runde. Wobei über die drei Sekunden gern mal sehr inszeniert mit dem Referee diskutiert wird.
Die erste Runde gehört zwei Luchadoras: Hardcore Diva gegen Julissa Mexa. Auch wenn viel Schauspiel, gefakte Tritte und Haltegriffe dabei sind, bewundernswert sind die akrobatischen Salti und Würfe allemal. Es geht weiter mit zwei gegen zwei: Der Ringsprecher ist plötzlich der Luchador Orlando Silva und tritt mit Tengkwa gegen den bösen Vampir Belthazar und den „kurdischen Adler“ Sorani an. Danach braucht er erst mal eine Pause, das ist sicherlich nicht gefakt.
Am Merchstand stehen einige maskierte Akrobaten, die schon im Ring standen, verschwitzt und mit Schrammen auf den nackten Oberkörpern, ein wenig Lucha ist beim Lucha Libre dann doch dabei. Berlin sei eine Station ihrer einjährigen Tournee, erzählen sie. Gestern seien sie in London gewesen, ansonsten kämpften sie hauptsächlich in Mexiko. Sie wirken müde. „Ich habe bis jetzt noch nichts gegessen“, sagt Hardcore Diva. Das Touren sei anstrengend und Lucha Libre bedeute jeden Tag Training. Vor allem richtig zu fallen muss trainiert werden. Seit 16 Jahren ist sie Luchadora. „Früher habe ich Fußball gespielt, wollte aber mal einen anderen Sport ausprobieren“, sagt sie.
Publikum als Teil der Show
Nach der Pause geht es weiter mit abgefahrenen seidenen Kostümen, glitzernden Umhängen mit Marienabbildungen und einer geschnitzten Tigermaske mit aztekischen Elementen. Sport, Theater, Kampf, mexikanische Kunst – im Lucha Libre vermischt sich alles. Puma King tritt mit Bobby Lee jr. gegen Tigre Blanco und Redimido auf. Letzterer gehört in seiner engen lila Leggins zu den Publikumslieblingen. Denn das Publikum schaut nicht nur brav zu, es ist Teil der Show. „Chinga tu madre“ („F* deine Mutter“) schreien sie die Bösewichte an. Und: „Culero“ („Arschgeige“). Dazu immer wieder der krachende Knall beim Aufprall der Luchadores auf der harten Ringmatte, gefolgt durch das „Oooh“ der Zuschauermenge.
Dann kommt der besondere Moment des Abends – so der Ringsprecher. Der größte Kampf steht noch aus: El Hijo del Fishman, Texano jr. und El Hijo de L. A. Park versus Ciclon Ramirez, Santo jr. und El Hijo del Santo. Allerspätestens jetzt weiß man, warum die vorderen Reihen gewarnt wurden, auf keinen Fall während des Kampfes den roten Teppich um den Ring herum zu betreten. Die Hebefiguren, Haltegriffe, Saltosprünge von den Seilen runter und das High Flying finden nicht nur im Ring statt.
Selbst der Referee ist irgendwann machtlos; alles gerät aus dem Ruder, die Luchadores kämpfen und fliegen umher. Auch in die Bestuhlung, die Bierbecher und halbvollen Popcorntüten hinein (freilich mit Vorwarnung). Ein „rudo“ versucht sogar El Hijo del Santo die Maske vom Kopf zu reißen, doch er beißt sich daran fest, zerbeißt sie fast selbst.
Am Ende gewinnen dann doch bei allen Kämpfen die Guten. Zu einer Demaskierung kommt es natürlich nicht in Berlin. Hier ist Lucha Libre vor allem Show. In Mexiko ist es aber auch der Traum des Aufstiegs und oftmals auch ein symbolischer Kampf gegen den bösen Amerikaner. In Mexiko komme es gar regelmäßig zu internen Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterklasse auf den billigen hinteren Rängen und den Reichen, die sich die Plätze direkt am Ring leisten können, erzählt eine Zuschauerin. Dieser Aspekt kam im Tempodrom in Berlin leider nicht zur Geltung.
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