Milo Rau an der Schaubühne Berlin: Flucht in Beethoven

An der Schaubühne bringt der Regisseur Milo Rau „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ heraus. Es hinterfragt die Arbeit von NGOs.

Eine blonde Frau in einem blauen Kleid steht auf einer Bühne und hält einen Stein und einen Zweig in der Hand

Ursina Lardi spielt eine Schauspielerin, die aus Enthusiasmus und weil es sich gut macht im Lebenslauf, als Entwicklungshelferin im Kongo war. Foto: Daniel Seiffert/Schaubühne

Sie hießen „Teachers in conflict“, „Heal Africa“ oder „Konvoi der Hoffnung“. Sie wollten helfen, nach dem Völkermord in Ruanda, in einem Flüchtlingslager in Goma am Kiwusee. Zwei Millionen Hutu waren auf der Flucht vor der Tutsi-Befreiungsarmee in den Kongo gekommen. Vermutlich an die 1.000 NGOs waren vor Ort.

Daran erinnert sich die Schauspielerin auf der Bühne, die damals, mit 19, Teil dieser Weißen gewesen war. Was haben sie sich zugetraut? Was wurde von ihnen erwartet? Mit Workshops, mit Friedenserziehung, mit Beten, Tanzen und Singen das nächste Massaker zwischen Hutu und Tutsi verhindern?

Ursina Lardi spielt an der Berliner Schaubühne diese Schauspielerin, die einmal aus Enthusiasmus und weil es sich gut macht im Lebenslauf, als Entwicklungshelferin im Kongo war. Sie spricht im schlichten blauen Kleid ins Mikro, sie spricht in die Kamera, sie redet das Publikum direkt an, vorsichtig durch den Schutt, den Müll auf dem Bühnenboden staksend. Sie vergleicht ihre Arbeit im Theater mit der als Helferin.

Wenn sie Ödipus spiele, der getrieben wird von einer Scham und einer Schuld, die er lange nicht erkennen kann – oder nicht erkennen will –, gleicht das dann nicht dem Einsatz derer, die getrieben von der Schuld des Kolonialismus jetzt versuchen, die Folgeschäden zu bekämpfen? Folgen nicht beide Rollen einem ähnlichenMuster?

Immer steht dabei die Frage im Hintergrund, wie ertragen wir das Elend der anderen, warum schauen wir es an?

„Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ ist das neueste Stück von Milo Rau überschrieben, in dem der Schweizer Regisseur mit Hilfe von zwei Schauspielerinnen in zwei Monologen auch eine kritische Bestandsaufnahme der eigenen Arbeit als politischer Regisseur unternimmt.

Der Text beruht auf vielen Interviews mit NGO-Mitarbeitern, mit Geistlichen und Kriegsopfern, geführt entlang der gegenwärtigen Flüchtlingsrouten, aber auch im Kongo. Immer steht dabei die Frage im Hintergrund, wie ertragen wir das Elend der anderen, warum schauen wir es an? Der Text beruht aber auch auf einer Analyse des klassischen Schauspiels, der Notwendigkeit von Empathie und ihrer professionellen Vermittlung im Theater.

Beide Perspektiven überschneiden sich, fragen aus unterschiedlichen Richtungen nach der Funktion und Funktionalisierung von Mitleid. Das macht die Inszenierung aufregend, dieses stete Hinterfragen der eigenen Gründe. Milo Rau, der in seinen großangelegten Recherche- und Inszenierungsprojekten wie den „Moskauer Prozessen“ und dem „Kongo-Tribunal“ versuchte, die Hebelwirkung der Instrumente des Theaters bis in die Realität selbst hinein zu verlängern, nimmt sich selbst, die Figur des Regisseurs, nicht aus der Kritik europäischer Überheblichkeit und Überschätzung aus.

Afrikanische Schicksale

Aber das ist wiederum nur ein Teil der komplexen Geschichte. Immer wieder scheint eine Verbundenheit mit und ein Berührtwerden von den afrikanischen Schicksalen auf, die neben der Erkenntnis des eigenen Zynismus wie eine zweite Spur mitläuft. Das sticht besonders am Anfang und am Ende hervor, wenn die belgische Schauspielerin Consolate Sipérius auftritt, die in Burundi geboren wurde und die erzählt, dass sie vier Jahre alt war, als ihre Familie ermordet wurde.

Sie ist Überlebende und Zeugin des Völkermords; und sie ist eine Künstlerin, die die Antike liebt, die großen tragischen Heldinnen. Rachefantasien à la Tarantino, oh ja, die liebt sie auch, damit hat sie sich schon aus einer depressiven Phase geholfen. Aber das Angebot des Regisseurs, sagt sie, auf der Theaterbühne auf ihr weißes Publikum mit dem Maschinengewehr zu zielen als Figur der Rache für erfahrenen Rassismus, lehnt sie dann doch dankend ab.

Die Stadt Kigali, der Kiwusee, die Grenzstadt Goma, die Flüchtlingslager im Kongo oder in Ruanda, sie sind in der Inszenierung nur in der Sprache präsent und in wenigen, ausgesuchten Geräuschen. „Mitleid“ ist auch ein Stück gegen die Überwältigungsästhetik der Bilder in den alltäglichen Medien, gegen das dramatische Erzeugen von Gefühlen mit den Nachrichtenbildern, gegen die Permanenz der Steigerung ins Schlimmere.

Die weiße Schauspielerin erzählt in der Rolle der ehemaligen Entwicklungshelferin, wie sie sich in die höchst dramatische Musik von Beethoven geflüchtet und darin verbarrikadiert habe, um Abstand zu halten zu dem Sterben und Morden der Massaker, die sie miterlebte. Diese Flucht in eine gewaltsame Ästhetik, mit der man sonst nicht eben geizt an der Schaubühne und an anderen Theatern, um das Schreckliche des realen Geschehens zu betonen, Milo Rau lässt sie aus. Und das macht seinen Text stark, ebenso wie die sehr präzise Arbeit der Schauspielerinnen.

Milo Rau ist nicht nur ein interessanter Theaterregisseur, sondern auch ein guter Propagandist der eigenen Projekte. Seine Interviews gleichen Manifesten. Ohne Anteile von Größenwahn, ohne die Gabe, die Realität in der Imagination überschreiten zu können und andere dahin mitzuziehen, hätte er wohl für viele seiner Arbeiten nie die notwendige Unterstützung, die vielen Teilnehmer gefunden. Er ist ja selbst manchmal wie ein Missionar unterwegs. Und das hat wohl auch seinen Blick geschärft auf die Projektionen und Fiktionen, die sich die Helfer mit ihrer Macht aufbauen.

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