Miriam-Cahn-Ausstellung in Siegen: Figuren, die zu entgleiten drohen

Miriam Cahn wurde gerade mit dem Siegener Rubenspreis ausgezeichnet. In ihrer Ausstellung „Meine Juden“ sucht sie malerisch nach dem Menschsein.

Blick auf eine Wand der Ausstellung mit einem liegenden Akt, dessen Konturen unklar sind

Miriam Cahn, Installationsansicht im Museum für Gegenwartskunst in Siegen Foto: Philipp Ottendörfer

Man kennt sie, natürlich. Aber in dieser Konzentration ergibt sich doch eine ganz andere Gemengelage: Dutzende Augenpaare starren einen an, mannshohe Schemen stehen einem gegenüber, von allen Ecken gleichzeitig. Springen unvermittelt hervor aus einem diffusen, wabernden Farbschleier, und man würde sich kaum wundern, plötzlich noch das Ticken eines Geigerzählers zu hören, so radioaktiv erscheint das ganze Szenario. Bald kann alles schon wieder ins Groteske kippen: Dann sind die Gesichtszüge nicht mehr stechend scharf, sondern nur mehr Punkt-Punkt-Komma-Strich.

Miriam Cahn bespielt das Museum für Gegenwartskunst in Siegen, gerade hat die Schweizer Künstlerin den 14. Rubenspreis der Stadt erhalten. Rund 300 Arbeiten sind hier versammelt, Malerei, meterhohe Kohlezeichnungen, Skulpturen und Videoarbeiten aus vielen Jahrzehnten. Gehängt wurden die Arbeiten, wie Cahn sich das vorstellte und oft von ihr selbst: Manchmal ein bisschen schief, nach Augenmaß; oft dicht an dicht, konfrontativ – einige Figuren beginnen direkt am Boden, auf dem ihre Betrachter stehen.

Nun sollte aber auch noch der Elefant im Raum adressiert werden, den die Jüdin Miriam Cahn selbst hineingestellt hat: „MEINEJUDEN“ heißt ihre Schau, groß und zusammen, wie eine gleichnamige Bildserie, die ebenfalls ausgestellt ist. Erst zum Schluss der Pressekonferenz fragt jemand nach dem „Antisemitismus-Eklat“ in Kassel. Die Anführungsstriche, sagt die Künstlerin und macht eine Geste in der Luft, könne man ruhig streichen. Im Übrigen sei das Thema natürlich stets aktuell.

Wie aber kann „das essenziell Andere“ aussehen, als das der Sozialforscher Henri Zuki­er die gesellschaftlich zugewiesene Funktion von Jüdinnen und Juden beschreibt? Die oder der im selben Moment als Menschen gerade unsichtbar bleibt, wie Rassismusdiskurse zeigen, während antisemitische Vorstellungen unbeeindruckt virulent zirkulieren und ebenjene Bilder prägen?

An der Sphäre zur Sichtbarwerdung

Cahn liefert rein malerische Antworten: Subkutan, gerade noch an der Sphäre zur Sichtbarwerdung agieren ihre Wesen. Der Künstlerin Juden, manchmal sie selbst („ich als jude“), sind changierende Schemen wie alle anderen Cahn-Wesen, in denen man nicht ganz das Andere und ein bisschen doch das Eigene finden kann, freilich nur bis zur Schwelle zum sogenannten uncanny valley, an dem der Grusel einsetzt – und zwar zielgenau zu dem Zeitpunkt, an dem plötzlich zu viel Anderes im Eigenen und zu viel Eigenes im Anderen erscheint.

In den spukenden Fratzen, von denen keiner weiß, ob sie Toten- oder Faschingsmasken ähneln. Den atomar leuchtenden Röntgenbildern eines Menschen, der unseren Blick mit Laserpräzision zurückwirft. Zeigen diese Bilder also jenen Moment, in dem sich Erkenntnis über die hier Abgebildeten materialisiert? Oder werden wir Zeuge, wie Cahns Figuren uns schon wieder zu entgleiten drohen? Ihre oder unsere?

Diese Dua­lität von Fremdheit und Nähe überträgt sie auch auf andere Zuordnungen, bisweilen aufs Mensch- oder Frausein schlechthin. Ein ganzer Raum ist dem Sujet des Gebärens gewidmet. Babys, die noch halb im Mutterleib stecken, halb schon auf der Welt sind. Und davor: Hände, die zurückboxen. Eine Kohlenstaub-Performance als ultimative Veranschaulichung hausfraulicher Tätigkeiten.

Wie grauenhaft ergreifend Cahn Erkenntnis durch bloßes Zeigen hervorbringen kann, veranschaulicht ihre Serie über Geflüchtete. Frauen, Männer und Kinder, schutzlos, ja, aber in ihrer stellenweisen Nacktheit zugleich ungemein lebendig. Und es gibt „das schöne blau“, ein Bild, das vom Versinken dieser Menschen in ebenjenem erzählt. Ein Vorgang, den man zwischen Motiven von Menschenmassen einerseits und Schlagzeilen über Ertrunkene andererseits wahrhaftig nicht sieht, wohl nie gesehen hat.

Regelrechter Overkill

Miriam Cahn: „MEINEJUDEN“, Museum für Gegenwartskunst Siegen, bis 23. Oktober

Am Schluss ist man wieder am Anfang, prä- oder posthuman, bei Kastanienbäumen und Atompilzen, die aus Farbpigmenten emporsteigen, dazwischen Pornografie, Berggipfel und auch mal ein Tier, das die Künstlerin dem Titel gemäß auslacht. Es ist ein regelrechter Miriam-Cahn-Overkill, ein schöner, oft lustiger, mitunter fürchterlicher Gewaltakt.

Am Tag, als dieser Text geschrieben wird, erscheint in der New York Times eine documenta-Rezension, die berechtigterweise die Leistungen der Kunstschaffenden jenseits antisemitischer Bilder würdigen möchte und hierzu aber, als ob es nur so ginge, jüdische Stimmen zum Thema flugs ausradiert. Mit Miriam Cahns Protagonistinnen und Protagonisten ist, ob man sie sehen mag oder nicht, unbedingt zu rechnen. Sonst lichtet sich der Farbschleier plötzlich und, „schreck!“, gibt es eins auf die Glocke.

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