Missbrauch-Beratung vor dem Aus: Männliche Opfer gehen leer aus

Der Verein Tauwetter arbeitet mit Männern, die als Jungen sexuell missbraucht wurden. Weil es kaum Förderung gibt, ist die Arbeit gefährdet.

Missbrauch an Jungen - lange ein tabuisiertes Thema. Bild: photocase / stille wasser

Die Aufdeckung der Missbrauchsfälle an katholischen Eliteschulen 2010 und die öffentliche Debatte über sexuelle Gewalt gegen Jungen bescherten dem Berliner Verein Tauwetter ungeahnten Zulauf. "Auf einmal kamen doppelt so viele Männer in die Beratung wie zuvor", berichtet Thomas Schlingmann, Gründer und Mitarbeiter von Tauwetter. Es ist der einzige Verein in Berlin, der mit Männern arbeitet, die als Jungen sexuell missbraucht wurden, und einer von nur fünf in Deutschland. Eine Lösung für die finanziellen Probleme des Vereins brachte die größere öffentliche Aufmerksamkeit indes nicht: Ohne institutionelle Unterstützung droht der Beratungsarbeit in diesem Jahr das Aus.

Tauwetter entstand 1995 aus der Selbsthilfearbeit, bis heute hat der Verein im Projektezentrum Mehringhof seinen Sitz. Die Arbeit teilt sich in zwei Bereiche: Es existieren vier Selbsthilfegruppen, parallel dazu berät der Verein auch andere Männer. Vor fünf Jahren wurde die Nachfrage nach Beratung so groß, dass der Verein beschloss, diese Aufgabe zu professionalisieren. Seither sind vier Mitarbeiter, teils als Minijob, teils ehrenamtlich, bei Tauwetter engagiert.

Während der Selbsthilfebereich jährlich 6.800 Euro für Büro- und Raumkosten erhält, gibt es für die Beratungsarbeit bisher keine öffentliche Förderung. Die ersten zweieinhalb Jahre konnten die Ausgaben durch eine Anschubfinanzierung der Stiftung Fernsehlotterie gedeckt werden. Seit diese ausgelaufen ist, versucht Tauwetter, eine institutionelle Förderung vom Senat zu erhalten - ohne Erfolg. Für Männer-Projekte gibt es deutlich weniger Fördermöglichkeiten als für Frauen - ein Problem, das Schlingmann auch auf die Männer selbst schiebt: "Die haben sich das, anders als die Frauen, auch niemals erkämpft."

Als er sich 2009 zum ersten Mal an den Senat wandte, erklärt Schlingmann, "war das Thema sexuelle Gewalt an Jungen noch nicht auf der Tagesordnung". Ein Jahr später hatte sich das geändert. Die Bundesregierung berief einen runden Tisch zum Thema Missbrauch ein, an einer seiner Untergruppen arbeitete auch Tauwetter mit. Für Fördergelder war es da bereits zu spät, der Haushaltsplan 2010/2011 schon verabschiedet.

Im Mai 2011 versprach die damalige Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linke) dem Verein auf einer Fachtagung, ihn im nächsten Haushalt zu berücksichtigen. Der Regierungswechsel nach den Wahlen im vergangenen September kam dazwischen, die Haushaltsplanung soll erst in den kommenden Monaten abgeschlossen sein. Ohne zusätzliche Gelder, sagt Schlingenhoff, habe die Beratungsarbeit keine Chance, 2012 zu überleben.

Rund 600 Menschen berät Tauwetter jährlich. Etwa 350 sind selbst Betroffene, der Rest Angehörige oder Mitarbeiter von Schulen und sozialen Einrichtungen. "Unser Wissen speist sich aus zwei Quellen", sagt Schlingmann, "dem Erfahrungswissen - wir sind alle selbst auch betroffen gewesen - und dem professionellen Wissen." Das werde häufig als Widerspruch gesehen, habe sich in der Praxis jedoch als sehr fruchtbar erwiesen.

Tauwetter arbeitet zudem nach einen stark klientenorientierten Prinzip. "Die Menschen, die kommen, bringen ja schon konkrete Fragen und Probleme mit", sagt Schlingmann. Da setze man an. Oft geht es um eine längerfristige Begleitung bei der Aufarbeitung von Missbrauchserfahrungen, Hilfe bei der Suche nach geeigneter Therapie, sozialen Problemen, mit Behörden, rechtlichen Fragen. "Eine häufige Frage ist: Kann ich denn auch nach vielen Jahren noch Strafanzeige erstatten? Oder ist das längst verjährt?"

Tauwetter arbeitet eng mit anderen Betroffenen-Organisationen wie Strohhalm, einem Verein für Prävention, und Wildwasser, einer Art "Schwesternprojekt", das unter einem ähnlichen Ansatz mit missbrauchten Frauen arbeitet. "Diese Zusammenarbeit ist sehr wichtig. Es gibt ja auch transidentitäre Menschen, die vielleicht heute in einem Frauenkörper leben, aber als Junge missbraucht wurden. Da müssen wir gemeinsam überlegen, wer der richtige Ansprechpartner ist", so Schlingmann.

Anders als Tauwetter erhält Wildwasser institutionelle Förderung. Denn während für Frauen und Jugendarbeit eigene Zuständigkeiten existieren, ist Männergesundheit ein untergeordneter Bereich im Gesundheitsressort. Die Probleme mit der Finanzierung, meint Schlinghoff, hätten dabei durchaus mit dem herrschenden Männerbild zu tun: "Männer sind als Opfer einfach nicht vorgesehen." Er sei aber noch guter Hoffnung, dass die neue Regierung das Problem aufgreifen würde.

Emine Demirbüken-Wegner (CDU), Staatssekretärin für Gesundheit, sagte auf Nachfrage der taz, eine Förderung für den Verein sei für den neuen Haushalt angemeldet und werde in den Ausschüssen in den nächsten Monaten diskutiert. "Ich kann der Entscheidung nicht vorgreifen", so Demirbüken-Wegner, "aber ich hoffe, dass wir über Parteigrenzen hinweg einen breiten Konsens finden werden, diese Arbeit zu unterstützen." Der Verein leiste fachlich überzeugende Arbeit. Wann es eine Entscheidung gebe, könne sie nicht sagen, voraussichtlich jedoch in den ersten drei Monaten des Jahres 2012.

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