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Missbrauch in SOS-KinderdörfernDen Schützern hilflos ausgeliefert

Missbrauch, systematische Gewalt und ein pädophiler Großspender, dem Kinder zugeführt wurden: SOS-Kinderdorf Österreich vertuschte Erkenntnisse über Jahre.

Sie suchten Schutz und fanden Gewalt: In Moosburg wurden Kinder wohl geschlagen, eingesperrt und mit Essens- und Wasserentzug bestraft Foto: Wolfgang Jannach/APA/dpa
Florian Bayer

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Florian Bayer aus Wien

Die Bronzestatue von Hermann Gmeiner ist verschwunden. Bis vor Kurzem stand die lebensgroße Figur des SOS-Kinderdorf-Gründers noch prominent vor der Kirche im tirolerischen Imst. Mehrere metallene Kinder suchen unter seinem weit geöffneten Mantel Schutz. Heute weckt diese Darstellung andere Assoziationen, weswegen sie nun abgetragen wurde – ein Symbol für den tiefen Fall einer der bekanntesten Hilfsorganisationen Österreichs, die auf der ganzen Welt tätig ist.

Was die Wiener Wochenzeitung Falter seit September in einer Serie von Enthüllungen aufdeckt, erschüttert Österreich: Gmeiner (1919–1986), der SOS-Kinderdorf nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet hatte und vielfach für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, soll mindestens acht Jungen in seinen Einrichtungen sexuell missbraucht haben.

Die Organisation wusste bereits seit 2013 von den Vorwürfen, schwieg aber zwölf Jahre lang und warb weiter mit dem Namen des Gründers um Spenden. Erst als der „Falter“ im September mehrere Missbrauchsfälle in den Kinderdörfern Moosburg (Kärnten) und Imst (Tirol) publik machte, kam die sorgfältig gehütete Wahrheit ans Licht.

Geld gegen Zugang

Schwer wiegen auch die inzwischen bekannt gewordenen Vorwürfe gegen den früheren Präsidenten Helmut Kutin, der 2024 verstarb, sowie gegen Geschäftsführer Christian Moser, der kürzlich dienstfrei gestellt wurde. Sie werden durch an den Falter zugespielte interne Dokumente schwer belastet. Beide sollen einem vermögenden Großspender wissentlich Zugang zu Kindern verschafft haben, obwohl sie von dessen pädophilen Neigungen und konkreten Übergriffen wussten.

Der Mann hatte demnach der Organisation über Jahre hohe Spendengelder zukommen lassen – allein 2010 flossen fast eine Million Euro nach Nepal –, wofür er im Gegenzug Kontakt zu Jungen forderte, den SOS-Kinderdorf ihm auch bereitwillig gewährte. Immer wieder hatte der Mann in nepalesischen Kinderdörfern logiert und übernachtet, wie bekannt gewordene E-Mails belegen.

Die Organisation flog 2013 einen 17-jährigen Nepali für eine Übernachtung im Haus des pädophilen Großspenders ein

Eigentlich ist es Spendern laut eigenen Statuten verboten, in den Kinderdörfern zu nächtigen, dies wurde jedoch missachtet. Schlimmer noch: Die Organisation flog laut Falter 2013 sogar einen 17-jährigen Nepali nach Österreich ein, damit er im Privathaus des pädophilen Großspenders übernachten konnte.

Als eine Betreuerin dokumentierte, wie der Spender einem Achtjährigen „in den Schritt“ fasste, reagierte die Organisation nicht mit Anzeige oder Hausverbot, weil man den lukrativen Geldgeber nicht vergraulen wollte. Selbst als SOS-Kinderdorf Nepal 2015 wegen der Vorfälle ein Besuchsverbot aussprach, blieb die österreichische Organisation passiv. Erst Ende 2021, nach massivem Druck durch eine Whistleblowerin, erstattete die Organisation Anzeige. Als die Polizei im Sommer 2022 zur Hausdurchsuchung anrückte, lag der 93-jährige Spender bereits im Sterben und entkam so der Justiz.

Parallel dazu enthüllen zwei von der Geschäftsführung jahrelang unterdrückte Studien ein „Missbrauchssystem“ in den Kinderdörfern Moosburg und Imst. Dort wurden zwischen 2003 und 2020 Kinder systematisch geschlagen, eingesperrt und mit Essens- und Wasserentzug bestraft. Die damalige Geschäftsführung unter Moser wusste seit mindestens 2016 von den Zuständen, schwieg jedoch.

Auch die zur Kontrolle verpflichteten Aufsichtsbehörden in Kärnten und Tirol versagten offenkundig, weswegen nun auch gegen sie wegen Amtsmissbrauch und Gefährdung des Kindeswohls ermittelt wird. Letzte Woche hat zudem der Internationale Dachverband von SOS-Kinderdorf, ebenfalls in Innsbruck ansässig, die österreichische Organisation suspendiert.

Moser selbst wurde angesichts der Enthüllungen Anfang Oktober dienstfrei gestellt. Er hatte 30 Jahre lang bei SOS-Kinderdorf Österreich gearbeitet, die letzten 17 Jahre an der Spitze.

„Keine andere Wahl, als wirklich alles offenzulegen“

Eine kürzlich einberufene „Reformkommission“ unter Vorsitz der früheren Höchstrichterin Irmgard Griss untersucht die Vorwürfe. „In dieser Situation hat SOS-Kinderdorf überhaupt keine andere Wahl, als wirklich alles offenzulegen“, sagte Griss dem Radiosender Ö1.

Fast wöchentlich kommt es zudem zu neuen Verdachtsfällen. SOS-Kinderdorf Österreich gibt an, alle „lückenlos“ aufklären zu wollen. Es verweist auf die einberufene Kommission, zudem werde intern geprüft. Auch habe es bereits personelle Konsequenzen – die Abberufung Mosers – gegeben.

Wie aber konnte der Missbrauch in diesem Ausmaß und über so viele Jahre passieren? „Rückblickend gab es über Jahre strukturelle und kulturelle Muster, die Transparenz erschwert und konsequentes Handeln verzögert haben“, heißt es auf taz-Anfrage. Und weiter: Diese Einsicht sei Teil einer Neuaufstellung mit dem Ziel, systematische Schwächen zu benennen und überkommene Muster zu brechen.

Laut aktuellem Jahresbericht (2024) finden bei SOS-Kinderdorf 1.768 Kinder „ein liebevolles und stabiles Zuhause“. Davon ist ein Großteil in Wohngruppen untergebracht, nur noch 171 in den klassischen Kinderdorf-Familien. Etwa zwei Drittel der 188 Millionen Euro Jahreseinnahmen stammen aus der öffentlichen Hand, der Rest sind überwiegend private und betriebliche Spenden. Weltweit ist die Organisation in 137 Ländern tätig und hat 2024 65.000 Kinder und Jugendliche in seinen Einrichtungen untergebracht.

Ohne den Druck von außen wären die Fälle wohl nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangt

Ob nun wirklich alles lückenlos aufgeklärt wird, bleibt abzuwarten. Klar ist schon jetzt: Ohne den Druck von außen, allen voran durch mutige Whistleblower und mediale Berichterstattung, wären die Fälle wohl nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Offenkundig haben alle internen und externen Kontrollen versagt.

Übrigens nicht nur in Österreich: Auch in deutschen SOS-Kinderdörfern kam es zu schweren Misshandlungen, zumindest 2007 bis 2015. Auch dort waren die Vorwürfe lang bekannt, auch dort hatten Kontrollmechanismen und Behörden versagt.

In Österreich brechen die Spenden bereits ein, das Vertrauen in die einst so ehrwürdige Institution ist erschüttert. Geschäftsführerin Annemarie Schlack verspricht zwar, dass man „Dynamiken ändern“ müsse, doch der Mythos vom liebevollen Kinderdorf ist unwiederbringlich zerbrochen.

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10 Kommentare

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  • Der Fall erinnert an den Jimmy Savile Skandal, Grossbritannien. Der Fernsehmoderator war Mitglied in vielen Wohltätigkeitsorganisationen und ging in Krankenhäusern ein und aus. Über 40 Krankenhäuser händigten ihm Schlüssel aus, die ihm nachts Zugang zu den Zimmern von Kindern ermöglichten. Das hat bereits System.

    Der Missbrauch ging über 50 Jahre. Hunderte von Beschwerden wurden abgefangen und von Verantwortlichen vertuscht.

  • Ja, die Enttäuschung und Erbitterung ist groß. Trotzdem. Es nützt ja nix. Jemand muss diese Arbeit machen -- also so, wie sie eigentlich gedacht ist -- und jemand muss dafür spenden. Ich meine, es hilft doch nicht, wenn sich jetzt alle auf die Position zurückziehen "Die ganzen Gutmenschen sind Heuchler, hab ich doch immer gesagt, ich denk nur noch an mich selbst und nehme mir, was ich kriegen kann. Bloß nicht bei einer Naivität erwischen lassen! Nur noch an das Schlechte glauben!". Das ist dann wirklich der Weltuntergang. Unvollkommene Arbeit der Gutmenschen ist immer noch besser als die 100% perfekte Schlechtmenschenwelt.

  • Derartig unglaubliche Heuchelei erlebt man ja leider immer wieder, auch in gemeinnützigen Institutionen, gar Kirchen. Es ist ein Zeichen für totale Verkommenheit. Solche Verfehlungen gab es schon immer und - es wird sie immer geben. Kämpfen muss !!! man dagegen gleichwohl, vor allem jedoch konsequent. An der Tagesordnung ist es hingegen, dass Geld viel von dem Dreck einfach zudeckt, Gier und Macht sind halt stärker als jede Moral. Diese Verbrecher haben i. d. R. nur auf "unterer" Ebene etwas zu befürchten, gesellschaftlich hoch Gestellte, Reiche kommen meist völlig ungeschoren davon. Eine gute Entscheidung war die jüngst getroffene von King Charles, seinem Bruder die royalen Vorteile zu entziehen - das reicht jedoch bei weitem nicht, der gehört in den Knast. Dort gehören auch alle anderen Prominete, Superreiche und Präsidenten hin die auf der geheimnisumwobenen "Epstein-Liste" stehen. Doch da wird nichts Wesentliches passieren. Wie war das nochmal mit unseren "Werten" ???

  • Geld regiert die Welt.



    Und die Untertanen machen es den Reichen recht. Und schweigen bis es nicht mehr geht. Am Besten solange bis die reichen Täter in Sicherheit oder gestorben sind,



    Alles Mittäter. So wie wir alle.

  • Ehrlich gesagt hätte es mich gewundert, wenn nicht irgendwann irgendwo so etwas vorgekommen wäre. Und ich vermute auch, dass in einigen anderen Ländern, in denen Eliten noch weit mehr Druck ausüben können als in Österreich, immer noch so etwas passiert -- wobei einige Mitarbeiter wohl Komplizen, die meisten aber auch Mit-Opfer sein dürften (insofern, als sie sich dem Machtgebaren hilflos gegenüber fühlen). Natürlich muss auf allen Ebenen dagegen eingeschritten werden. Trotzdem bleibe ich Spenderin, denn ich schätze, diese Missbräuche bewegen sich zahlenmäßig im ppm-Bereich, und wenn jetzt alles dort wegbricht, wird viel mehr Gutes vernichtet als Schlechtes verhütet. Niemand kann wollen, dass die gesamte Arbeit der Kinderdörfer zusammenbricht, oder?

    • @miri:

      Niemand will das. Allerdings wollen die allermeisten Menschen, dass endlich durchgegriffen wird und derartige Strukturen KONSEQUENT und HART verfolgt und bestraft werden. Es darf nicht das geringste Schlupfloch für solche Verbrecher geben. Die Trickserein etwa eines Kardinals !! Woelki und die indirekte Duldung durch Klerus, Justiz und Politik zeigen jedoch, dass dies nur ein naiver Wunschtraum ist. Ekelhaft.

    • @miri:

      Der Laden kann gerne dichtmachen. Wenn der Chef der Organisation Kinder zur Prostitution freigibt, dann handelt es sich um organisierten Kinderhandel. Eine Organisation, die so von Grossspendern abhängig ist, dass sie die Kinder seit Jahrzehnten ungestört zur Prostitution anbietet, ist von innen bereits systematisch zersetzt und nicht mehr zu retten.

      Auf Wikipedia ist zu lesen, dass die Organisation unter dem Chef im atemberaubenden Tempo in Asien expandiert hat.

      Komplette moralische Bankrotterklärung, wenn organisierte Kinderprostitution schöngefärbt wird mit der Begründung, dass die Kinder immerhin Buntstifte und Schulhefte erhalten.

  • Die Vorgänge dort erinnern mich an die einst hochgelobte Odenwaldschule in Hessen, in der viele Lehrer wussten, was vorgeht, aber alle geschwiegen hatten. Man wollte diese "Idylle" auf Biegen und Brechen erhalten.

  • Ohnehin traumatisierte Schutzbefohlene, die niemanden auf der Welt haben, werden einem reichen Unmenschen zum sexuellen Missbrauch zugeführt. Was für eine grausame Unmenschlichkeit und Niedertracht. Keine Strafe der Welt kann so einem Verhalten angemessen begegnen. Es ist niederschmetternd.

  • Sowas macht mich immer wieder sprach- und hilflos.