Mögliche Entführung durch Sekte: Wo ist Shalomah Henningfeld?

Seit Samstag ist das elfjährige Mädchen aus Dillingen verschwunden. Es geriet schon einmal in die Fänge der gewalttätigen Sekte „Zwölf Stämme“.

Ein Haus in einem Dorf

Das Hauptquartier der Sekte „Zwölf Stämme“ in Tschechien Foto: Kubeö Slavomir/CTK/dpa

MÜNCHEN taz | Wo ist Shalomah Henningfeld? Das elfjährige Mädchen ging am Samstag um 15 Uhr in Holzheim bei Dillingen zum Joggen. Laut Polizei trug es eine schwarze Adidas-Hose, ein rotes Top und pinke Nike-Schuhe. Seitdem ist sie verschwunden, die Pflegeeltern, bei denen Shalomah lebt, sind in Sorge.

Immer klarer wird nun, dass Shalomah wohl im nördlichen Bayerisch-Schwaben von der christlich-fundamentalistische Sekte „Zwölf Stämme“ entführt wurde, deren Teil die leiblichen Eltern des Mädchens sind. „Wir wissen weiterhin nicht, wo sie ist, und suchen auch weiter“, sagt Markus Trieb, Sprecher der Polizei Schwaben-Nord, dieser Zeitung.

Im Laufe des Montags gingen zwei gleich lautende Emails bei Shalomash Pflegevater ein: Sie sei bei ihren leiblichen Eltern, es gehe ihr gut, man brauche sich nicht zu sorgen. Eine unterzeichnet von ihrem leiblichen Vater, die andere von einem weiteren Sektenmitglied.

2017 hatten die „Zwölf Stämme“ ihren Sitz in Klosterzimmern bei Nördlingen verlassen und waren nach Tschechien gezogen. Über viele Jahre hatte es zuvor Dauerstreit mit staatlichen Institutionen gegeben, Gerichtsverfahren, Polizeieinsätze, Verurteilungen. Denn die Sektenmitglieder schlugen und misshandelten ihre Kinder systematisch, diese mussten auf dem Hof schuften, gingen nicht in öffentliche Schulen, sondern wurden in dem Anwesen von nicht ausgebildeten Hilfslehrerinnen unterrichtet. Und das alles nach Ansicht der Sekte ausdrücklich im Namen Gottes.

Schläge jeden Tag

Insgesamt 40 Kinder nahmen die Behörden in Bayern aus den Familien und verteilten sie auf Pflegeeinrichtungen und -familien. Dann zog die Sekte ins tschechische Skalna nahe der Grenze zu Bayern und es wurde ruhig um sie. Die meisten der aus der Seke geretteten Kinder sind inzwischen volljährig oder hatten ein Alter erreicht, in dem sie selbst entscheiden konnten, wo sie leben wollen. Shalomah war noch nicht so weit.

Auch Klaus R. ist in die Sekte hineingeboren worden und blieb, bis er 17 Jahre alt war. Dann floh er im Jahr 2012. „Ich hatte keine Kindheit“, erzählt er von früher. Es habe ein „Klima der Angst und der totalen Überwachung“ geherrscht. Ständig gab es religiöse Zusammenkünfte. Nicht wöchentlich, sondern täglich wurde mit der Rute auf die offenen Hände und den nackten Po der Kinder geschlagen. Die Ruten wurden mit Tesafilm überklebt, damit es mehr schmerzte und sie länger hielten. Für ihre Misshandlungen wurde eine nicht ausgebildete Lehrerin vom Amtsgericht Nördlingen später zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.

Nach außen hin wirkte das Anwesen Klosterzimmern in Bayern – 15 Häuser und ein Kirchlein in der Mitte – wie eine ländliche Idylle. Die Mitglieder kleideten sich bunt wie Hippies, ließen sich die Haare wachsen, gaben sich friedlich-fröhlich. Ein Mal im Jahr fand ein Hoffest statt, die Menschen aus der Umgebung wurden eingeladen. Die Gruppe lebte von der Landwirtschaft, war auch im Baugewerbe tätig und errichtete etwa Solaranlagen auf Hausdächern.

Doch so schön der Schein, so kriminell die Organisation: Niemand erhielt Lohn, keiner war krankenversichert. „Die älteren Mitglieder“, so der Aussteiger R., „mussten schon deshalb bleiben, weil sie keine Rente bekommen hätten und draußen nicht zurecht gekommen wären.“ Die Kinder und Jugendlichen wurden kaum ärztlich untersucht.

R. ist kein einziger Jugendlicher bekannt, der einen Schulabschluss absolviert hat, auch nicht die damalige Hauptschule. In Bayern gab es immer wieder heftige Kritik, wie die Behörden dies über so lange Zeit hatten durchgehen lassen können – die systematische Gewalt, das Umgehen der Schulpflicht. In Tschechien wiederum ist die Prügelstrafe nicht verboten, und es ist einfacher, Kinder privat zu unterrichten.

Ob Shalomah von den Eltern oder anderen Sektenmitgliedern dorthin verschleppt wurde, ist derzeit Teil der Ermittlungen. Es besteht laut Kripo der Verdacht der Entziehung einer Minderjährigen, darauf stehen bis zu fünf Jahre Haft. Wo das Mädchen im Alter von drei bis acht Jahren gelebt hatte, wussten die Sekteneltern jedenfalls ganz genau. Vom Jugendamt war ihnen regelmäßig der Besuch der Tochter gestattet worden, zuletzt Ende September.

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