Montagsinterview Wirtschaftsprofessor Henrik Enderlein: "Wir brauchen eine aktive Finanzpolitik"

Henrik Enderlein, Professor an der Hertie School of Governance gehört zu den profiliertesten Wirtschaftsexperten. Ein Gespräch über die Krise, Waldorfschulen und was es bedeutet, zu einer Elite-Hochschule zu gehören.

Mit 34 Professor und stellvertretender Dekan der Hertie School of Governance: Henrik Enderlein. Bild: Wolfgang Borrs

taz: Herzlichen Glückwunsch, Herr Enderlein! Sie gehören zu den wenigen Gewinnern der Finanzkrise.

Henrik Enderlein verlebte eine behütete Kindheit im schwäbischen Tübingen. Sein Vater ist der FDP-Politiker Hinrich Enderlein, der nach der Wende Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg war. Enderlein junior ist selbst Vater von zwei Kindern.

Der Überflieger: Enderlein studierte Politikwissenschaften an der Sciences Po in Paris, der Columbia University in New York und promovierte am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Von 2001 bis 2003 war er bei der Europäischen Bank in Frankfurt beschäftigt, ehe er 2003 Juniorprofessor an der FU wurde. Er forschte als Fulbright Ehrenprofessor an der Duke University in North Carolina und ist Träger der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft.

Der Job: Enderlein ist Professor für politische Ökonomie und stellvertretender Dekan an der Hertie School of Governance (HSoG) mit Sitz in der Friedrichstraße. Die Eliteschmiede bereitet ihre Studierenden auf Führungsaufgaben in Politik und Wirtschaft vor. Einzige Unterrichtssprache ist Englisch.

Die Krawatte: Enderlein mag sie nicht besonders. Aber als derzeit viel gefragter Gast bei politischen Talkshows und Wirtschaftssendungen muss er eine Krawatte immer griffbereit haben. Wenn es geht, legt er sie ab.

Henrik Enderlein: Wieso?

Seit die Börsenkurse verrückt spielen, sind Sie ein gefragter Interviewpartner. Fernsehen, Radio, Zeitungen, alle wollen, dass Sie Ihnen die Finanzwelt erklären.

Eigentlich läuft die Krise ja schon anderthalb Jahre. Aber erst im September haben sich die Medien darauf gestürzt. Es stimmt: Hier klingelt manchmal zehnmal am Tag das Telefon. Ich muss in der letzten Zeit auch ständig Krawatten tragen, wegen der Fernsehauftritte. Das mag ich eigentlich nicht so gerne. Aber als Gewinner der Krise würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen.

Sondern?

Man braucht jemanden, der den Leuten die Finanzkrise in einigermaßen sinnvollen Sätzen nahebringen kann. Und da ich mich mit dem Thema seit drei Jahren beschäftige - wir wussten ja alle, dass die Krise kommt -, bin ich gut vorbereitet. Es ist mir auch ein Anliegen. Als Wissenschaftler freut man sich doch, wenn man das, was man erforscht, vermitteln kann.

Ihrer Karriere schadet es sicher nicht, in der Öffentlichkeit zu stehen.

Wie man es nimmt. Für Professoren gibt es immer zwei Seiten: Auf der einen das öffentliche Auftreten, auf der anderen das Forschungsprofil, das unter den Kollegen sehr viel mehr wahrgenommen wird. Zum Forschen komme ich momentan kaum noch.

Dann halten auch wir Sie noch ein bisschen davon ab. Was meinen Sie, haben wir den schlimmsten Teil der Krise hinter uns?

Wir sind mit den Aktienkursen schon 40 Prozent unter den Höchstständen, es wurde in den letzten Monaten enorm viel Kapital verbrannt. Ich glaube nicht, dass da noch viel Luft nach unten ist. Aber die Märkte werden sich auch nicht gleich erholen. Die Konsequenzen für die Realwirtschaft machen sich jetzt erst bemerkbar. Jedes Licht am Ende des Tunnels hat sich in dieser Krise noch als entgegenkommender Zug erwiesen.

Sie zeichnen ein ganz schön düsteres Bild von der Lage.

Persönlich bin ich eigentlich ein optimistischer Mensch. Aber es gibt Momente, in denen es keinen Sinn hat, die Realität schönzureden. Hätten der amerikanische Finanzminister und der US-Notenbankchef schon 2005 gesagt, wie schlecht die Aussichten sind, wäre der Schaden kleiner gewesen.

Einerseits wollen Sie aufklären, andererseits dürfen Sie keine Panik schüren, denn das würde den Finanzmärkten zusätzlich schaden. Sind Sie in einer Zwickmühle?

Ich bin Experte, nicht Politiker. Ich sehe es als meine Aufgabe in dieser Krise, Klartext zu reden. Ja, die Krise ist schlimmer als alle dachten. Und sie ist auch schlimmer als die Politiker sagen. Das teile ich mit.

Hat sich mit der Finanzkrise Ihr Weltbild verändert?

Ich bin aufgewachsen mit der Idee, dass man deregulieren und den Märkten mehr Aufgaben überlassen muss. Das war die vorherrschende Meinung. Ich bin von Haus aus Politikwissenschaftler. Mich interessiert, wie und wo man etwas politisch regulieren sollte. Im Kreis der Ökonomen bin ich da lange gegen den Strom geschwommen. Jetzt merke ich: Der Strom hat sich verändert. Inzwischen schwimmen auch andere Leute in meine Richtung. Die Marktgläubigkeit nimmt ab. Die Rolle des Staates wird wieder wichtiger. Endlich wird auch wieder über Wirtschaftspolitik gesprochen, und nicht nur über Wirtschaft, für die die Politik ein störendes Element ist. Ich empfinde schon eine gewisse Genugtuung.

Sind Ihnen auch grundsätzliche Zweifel am Kapitalismus gekommen?

Nein. Der Kapitalismus ist nicht perfekt, aber immer noch das Beste, was wir haben. Man sollte nicht das System als solches an den Pranger stellen, sondern Schranken einziehen. Das haben wir in den vergangenen Jahren vernachlässigt, vor allem im internationalen Finanzverkehr.

Können Sie in diesen Tagen auch Marx etwas abgewinnen?

Marx ist einer der faszinierendsten Ökonomen, die es überhaupt gibt. Nur in einem Punkt hat er sich fundamental geirrt: Die strukturellen Probleme, die er im Kapitalismus erkannt hat, führen nicht automatisch zum Zusammenbruch des Systems.

Wo würden Sie sich ordnungspolitisch einordnen?

Der alte Gegensatz Keynesianer versus Klassiker ist meiner Ansicht nach vollkommen überholt. Ich würde sagen: Postkeynesianismus ist nun die dominierende Doktrin. Wir brauchen eine aktive Finanzpolitik, die auch mit einem Konjunkturprogramm interveniert, wenn das notwendig ist. Ich selbst verorte mich linksliberal. Wenn es nicht so ein ausgelutschtes Wort wäre, würde ich die soziale Marktwirtschaft als einen wunderschönen Begriff nach vorne ziehen.

Wie legt ein linksliberaler Ökonom sein Geld an?

Ich bin in einer ganz komfortablen Situation. Ich habe mir mit meiner Frau ein Haus gekauft und bin komplett verschuldet. Es gibt nichts anzulegen.

Herr Enderlein, Sie waren an der Sciences Po in Paris, der Columbia University New York und zwischendrin bei der Europäischen Zentralbank. Mit 34 Jahren schon Professor - sind Sie ein Streber?

Süße Frage. Hm. Kein Mensch sieht sich gern als Streber.

Ihr Abi: 1,0.

Das liegt daran, dass ich vor der zwölften Klasse mit meiner Familie von Tübingen nach Berlin gezogen bin. Das Bildungsgefälle zwischen Baden-Württemberg und Berlin war schon sehr groß.

Sowohl in Tübingen als auch in Berlin waren Sie auf einer Waldorfschule. Wie kommt man von der Anthroposophie zur Analyse der Finanzmärkte?

Waldorfschüler sind häufig die größten Kritiker der Anthroposophie. Auch ich habe mich daran gerieben. Aber ich muss sagen: Ich habe auch enorm profitiert von diesem Schulsystem. Die Freiheit, die Offenheit und die Förderung der Kreativität - die Waldorfschule ist gut darin, die eigene Neugier zu wecken. Vielleicht kommt daher auch meine Begeisterung fürs Sprechen und Vortragen. In der Waldorfpädagogik ist nicht das passive Lesen, sondern das Vermitteln zentral. Erst wenn ich in der Lage bin, komplexe Themen frei darzustellen, habe ich sie auch wirklich gut verstanden. Das lässt sich natürlich schön auf die Finanzkrise übertragen.

Hat die Waldorfschule auch Ihr wirtschaftspolitisches Interesse geweckt?

Wenn ich damals gefragt wurde, was mich begeistert, habe ich über Geschichte und Politik gesprochen. Irgendwann ist mir klar geworden: Politik ist ab einem bestimmten Punkt immer mit den materiellen Grundlagen verbunden. Ich erinnere mich, dass ich bei meinen Eltern aus dem Schrank ein Buch geholt habe mit dem Titel "Börsenkurse verstehen". Ich wollte das unbedingt begreifen.

Haben Ihre Eltern Ihr Interesse gefördert?

Mein Vater saß für die FDP im baden-württembergischen Landtag, später wurde er Wissenschaftsminister in Brandenburg. Ich habe schon mit fünf Jahren Wahlkampf gemacht. Das Politische war beim Abendessen immer präsent. Später bin ich selbst in die SPD eingetreten.

In Abgrenzung zu Ihrem Vater?

Nein. Ich glaube, mein Vater und ich, wir würden uns beide als linksliberal bezeichnen. Die FDP stand früher schließlich für eine sozialere Politik. Die Freiburger Thesen hätte auch ich mittragen können.

Sie sind Sozialdemokrat, gehören aber zur Elite des Landes. Passt das zusammen?

Die Frage ist, wie man Elite definiert. Soziologen würden sicherlich sagen, ich bin ein Teil der Elite, weil ich einen gewissen Bildungsstand und als Hochschullehrer einen Sozialstatus habe. Aber ich fühle mich nicht so, als würde ich zu einem exklusiven Club gehören, der irgendwelche Fäden in der Hand hält. Das war auch nie mein Ziel.

Die Hertie School of Governance, an der Sie lehren, bildet besonders talentierte Studenten zu hochrangigen Politikberatern aus - auch Sie formen eine Elite.

Ziel unserer Schule ist es, diejenigen, die Führungsaufgaben in Ministerien oder Firmen übernehmen können, so gut auszubilden wie möglich. Ich wünsche mir, dass sie die Komplexität der Welt, in der wir leben, begreifen. Dazu will ich beitragen.

Besonders durch das Verhalten der Investmentbanker ist zumindest die Wirtschaftselite in letzter Zeit ganz schön in Verruf geraten. Was ist da aus Ihrer Sicht moralisch schief gelaufen?

Gehen Sie mal nach London in einen Tradingraum einer Investmentbank. Da sitzen 26-Jährige, die morgens die Boulevardzeitung Sun lesen und an den großen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen kaum Interesse haben. Die setzen sich vor den Computer und handeln mit Millionenbeträgen. Ist das eine Elite? Für mich nicht.

Mit diesen Investmentbankern lässt sich also nicht über Moral und Ethik reden?

Ich würde einem Banker nie vorwerfen, dass er grundsätzlich unmoralisch denkt. Banker agieren in ihrem Handlungskontext und tun das, was man von ihnen erwartet. Natürlich muss man fragen, ob Persönlichkeiten wie die Manager der Banken nicht irgendwann die Exzesse hätten erkennen und eingreifen müssen. Aber ich finde es auch nicht richtig, daraus eine große Moraldiskussion abzuleiten. Ich glaube nicht an das fundamental Gute im Menschen. Wir müssen damit leben, dass die Mehrheit der Menschen nutzenmaximierend und rational vorgeht. Wenn das System falsch ist, müssen wir eben über das System reden und Anreize schaffen, dass es besser funktioniert.

Wie sollte eine neue und auch gerechtere Wirtschaftsordnung Ihrer Meinung nach aussehen?

Vor allen Dingen müssen wir anfangen, nicht nur Wirtschaft, sondern auch Politik global zu denken. Ich glaube, wenn die Menschen in hundert Jahren zurückschauen, werden sie das nationalstaatliche Denken als eine der größten Dummheiten unserer Zeit charakterisieren. Die Problemstellungen sind global, beim Klimawandel, bei den Finanzen und in vielen anderen Bereichen. Eine Weltregierung wird es sicherlich so schnell nicht geben. Aber dass wir uns irgendwann in diese Richtung bewegen müssen, ist für mich unstrittig.

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