Montagsinterview mit Erika und Ulrich Gregor: "Wir sitzen immer nah beieinander"

Erika und Ulrich Gregor sind seit über 50 Jahren ein Paar. Die beiden Kino- und Programmmacher gehen auch heute noch auf fast jedes Filmfestival.

Erika und Ulrich Gregor in ihrer Wohnung in Eichkamp. Bild: Detlev Schilke

taz: Frau und Herr Gregor, die dunkle Jahreszeit steht vor der Tür, da gehen die Menschen wieder öfter ins Kino. Wie ist das bei Ihnen ?

Erika Gregor: Wir gehen immer ins Kino, egal ob es stürmt, schneit oder die Sonne scheint.

Ulrich Gregor: Dunkel oder hell, wir gucken nur aufs Programm. In letzter Zeit war besonders viel los. Im Arsenal lief eine Kurosawa-Retrospektive, da haben wir fast jeden Film gesehen. Das Zeughauskino hat einen Kongress zu Pasolini gemacht. Da haben wir alte Bekannte aus Italien getroffen.

Wir, das klingt nach Symbiose.

Erika: Wir - das sind die Gregors. So werden wir genannt, weil wir seit über 50 Jahren alles gemeinsam machen. Allein ins Kino gehen, das wäre doch langweilig.

Ulrich: Das Kino ist ja nicht nur ein Ort für ein ästhetisches, künstlerisches Erlebnis. Es ist auch ein Ort für ein soziales Erlebnis. Ich denke manchmal, wie gut wirs haben, dass wir uns austauschen können. Sehr oft ist es ja so, dass Menschen allein sind.

Sie beide haben eine bewegte Geschichte als Kino- und Programmmacher. Was schätzen Sie, wie viele Filme haben Sie in Ihrem Leben gesehen?

Erika: Zwischen 10.000 und 15.000 sicher. Natürlich sind da viele Filme dabei, die man wieder vergessen hat, weil sie nicht wichtig waren.

Ulrich: Das summiert sich. In Berlin gehen wir hauptsächlich ins Arsenal. Das Programm ist so interessant, dass man im Grunde jeden Tag hinmüsste. Ich denke schon manchmal, ich guck lieber gar nicht erst ins Programm.

Es hat sich also nichts geändert, seit Sie im Ruhestand sind?

Erika: Warum auch? Wir lieben das Kino leidenschaftlich.

Ulrich: Neulich, beim Filmfestival in Cannes, habe ich gelesen, dass das Leben mit 80 erst anfängt. Der Filmregisseur Manoel de Oliveira ist 100 und arbeitet immer noch.

Die Cineastin: Erika Gregor, geb. Steinhoff, kam 1934 in Sulingen zur Welt. In Göttingen, London, München und Berlin studierte sie Germanistik, Anglistik, Geschichte und Philosophie. Lieblingsfilm: Banshun (Später Frühling), Yasujiro Ozu, Japan 1949. Lieblingsregisseur: Aki Kaurismäki.

Der Cineast: Ulrich Gregor, geboren 1932 in Hamburg. In Hamburg, Paris und Berlin studierte er Publizistik, Romanistik und Filmwissenschaft. Lieblingsfilm: Tschelowjek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera), Dsiga Wertow, UdSSR 1929. Lieblingsregisseur: Andrei Tarkowski.

Die Cineasten: An der Freien Universität lernten sie sich 1957 kennen. Heirat 1960. Die beiden haben zwei Töchter und zwei Enkelinnen. Die Gregors sind Mitbegründer der "Freunde der Deutschen Kinemathek" (1963) und des Kinos Arsenal (1970). Das Arsenal, früher in der Welserstraße, heute am Potsdamer Platz, war Vorreiter der Kommunalen Kinos. Von 1971 bis 2001 leitete Ulrich das "Internationale Forum des Jungen Films" der Berlinale. Erika saß im Auswahlkomitee der Forum-Filme.

Die Gregors live: www.taz.de/1/berlin/berlin-folgen/#27899813

Sie lassen nach wie vor kein Filmfestival aus?

Ulrich: Wir versuchen das zumindest. Auf Festivals nehmen wir Filme in konzentrierter Form zu uns. Wir sehen, so viel wir sehen können. Wir vergleichen. Wir machen uns ein Bild von der Landschaft, die das jeweilige Festival repräsentiert. Wir messen sozusagen den Puls der Kinematografie. Und wenn wir den Puls gemessen haben, sind wir glücklich. Wir wissen wieder ein bisschen besser, wie alles läuft im Filmbereich. Das heißt nicht, dass wir mit allem einverstanden sind. Aber wenn wir einen Film von Kaurismäki gesehen haben, dann sind wir jedes Mal wieder froh.

Wie viele Filme schaffen Sie am Tag?

Ulrich: Die Höchstleistung sind fünf Filme, wenn man sie ganz sehen will. Obwohl, ich sehe die meisten Filme zu Ende, muss ich doch zugeben.

Erika: Ich bin wesentlich ungeduldiger. Ich krame schon mal herum und flüstere ihm zu, ob wir nicht vielleicht rausgehen wollen, und dann sagt er: "Ach bitte, gib ihm noch ein Chance." Dann bleibe ich auch sitzen, obwohl ich denke, es wird doch nichts mehr.

Ulrich: Ich bin nur einmal ganz schnell rausgegangen. Das war auf dem Festival von Cannes, da lief ein Film über Insekten. Ich weiß gar nicht, warum ich so gelangweilt war. Insekten sind ja sehr interessante Objekte. Eigentlich müsste man sie genauer studieren.

Streiten Sie sich über Filme?

Erika: Kennengelernt haben wir uns 1957 am studentischen Filmclub in Berlin - weil wir immer verschiedener Ansicht waren. Also an Filmen, die er schätzte, hab ich rumgemäkelt. Bei meinen eigenen Urteilen darüber, was ich mochte, war ich etwas vorsichtiger, weil er sehr intellektuell war. Irgendwann haben wir gesagt, das liegt vielleicht daran, dass wir die Filme zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gesehen haben. Wir müssen einen Feldversuch starten und gemeinsam ins Kino gehen.

Was haben Sie sich angesehen?

Erika: "Lächeln einer Sommernacht" von Ingmar Bergman. Ulrich hatte da schon als Kritiker für die Filmkritik, eine hochseriöse Zeitschrift, gearbeitet. Er kriegte zwei Pressekarten für das Cinema Paris. Als wir rauskamen, mussten wir uns sofort ins nächste Café setzen. Wir hatten natürlich auch diesmal einen jeweils anderen Film gesehen, aber beide fanden wir ihn wunderbar. Ich glaube, wir haben da zwei Stunden gesessen und über den Film geredet.

Und dann wurden Sie ein Paar?

Erika: Wir fingen an, ein Paar zu werden. Damals in den 50er Jahren ging so was langsam. Man hat zusammen diskutiert. Man hat zusammen gearbeitet. Im Filmstudio an der FU habe ich beim Programm mitgearbeitet.

Ulrich: Was unsere verschiedenen Meinungen zu Filmen betrifft, gibt es einen berühmten Fall: "Menschen am Sonntag" aus dem Jahr 1929, ein wunderbarer Film, wie ich finde. Du, Erika, bist der Meinung, der ist irgendwie antihumanistisch. Also wir streiten uns immer über diesen Film, obwohl schon mit einer Prise Humor, denn wir wissen genau, dass wir unterschiedlicher Meinung sind. Obwohl, ich kanns nicht ganz nachvollziehen, denn der Film ist wirklich ganz hervorragend. Ein realistischer, dokumentarischer Alltagsfilm aus dem Berlin der 20er Jahre. Ganz großartig.

Erika: Der Film ist schön als Kunstwerk. Aber er ist gegen Frauen. Einige Bilder haben mich zutiefst schockiert, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Gegen diese Bilder habe ich auch heute noch Widerstände.

Was genau bedeutet Kino für Sie?

Erika: Es ist ein besonderer Moment, wenn der Vorhang aufgeht. Man erwartet immer einen wunderbaren Film, bei dem man auch träumen kann, warum denn nicht? Ja, es muss nicht immer nur Aufklärung sein.

Ulrich: Zugrunde liegt eine gewisse Magie, die schwer in Worte zu fassen ist, aber die sich jedes Mal wieder neu herstellt. Das Kino ist eine Plattform, die sich nach allen Seiten hin öffnet: Kunst, Wiedergabe der Wirklichkeit und politisches Statement - all das ist im Film vorhanden.

Wie sieht Ihr Fahrplan aus, wenn Sie auf einem Festival sind?

Erika: Wir stehen schon um Viertel vor sieben auf. Zu Hause tun wir das erst um halb neun. Um Viertel nach acht spätestens sitzen wir im ersten Film. Die einzige Mahlzeit, die wir überhaupt einnehmen, ist das Frühstück. Es ist sehr wichtig, den ganzen Tag nichts zu essen. Wenn man isst, schläft man ein. In der 14-Uhr-Vorstellung sieht man die Leute reihenweise vor sich hin schlafen. Aber man geht doch nicht ins Kino, um zu schlafen! In den Pausen trinken wir immer einen Espresso oder auch zwei. Zum Glück gibt es im Festivalhaus überall Espresso-Maschinen. Das Einzige, was wir uns während der Filme gönnen, ist eine Vitamintablette. Spätabends, in der Einsamkeit des Zimmers, isst man eine Kleinigkeit und macht sich Notizen über die Filme.

Machen Sie sich nach Kinobesuchen immer Notizen?

Erika: Ich schreibe seit vielen Jahren Tagebuch. Das heißt, ich setze mich jeden Abend hin. Ich glaube an Zeiten und feste Strukturen. Wenn ein Film sehr schlecht war, schreibe ich nur: vertane Zeit. Wenn er mir gefallen hat, notiere ich ein, zwei Bilder oder ein, zwei Szenen, damit ich, wenn ich das wieder lese, den Film vor Augen habe. Das hätte ich nicht, wenn ich nur den Inhalt aufschriebe.

Ulrich: Ich muss sagen, ich bewundere Erikas Energie, sich jeden Abend das Buch zu nehmen und eine Seite vollzuschreiben. Ich mache mir auch Filmnotizen. In ein paar Kernsätzen halte ich meinen Eindruck, die Reaktion fest. Das hab ich in meinem Computer und kann es jederzeit abrufen. Es kommt aber auch vor, dass ich meine Frau frage: "Wann haben wir denn vor drei Jahren einen Film gesehen? Haben wir den wirklich gesehen?" Und dann schlägt sie im Tagebuch nach und … da steht es!

Reden Sie auch im Bett noch über Filme?

Erika: Meist geht einer vor dem anderen ins Bett, manchmal gehen wir aber auch gemeinsam. Aber dann lesen wir, jeder für sich ganz ruhig. Irgendwann macht der eine das Licht aus und dann der andere. Da reden wir gar nicht mehr. Auch beim Frühstück reden wir sehr wenig, weil wir am Morgen eine Zeit brauchen, um langsam anzulaufen. Da wird Tee getrunken und Zeitung gelesen.

Woran liegt es, dass Sie so gut harmonieren?

Ulrich: Ich glaube, dass wir uns in verschiedener Weise sehr ergänzen. Im Temperament, in der Sensibilität, im Geschmack. Wenn wir einen Film gesehen haben, vermögen wir uns mit ein paar Worten zu orientieren, wie der andere ihn gefunden hat. Das gibt einem auch Sicherheit, wenn der andere die gleiche Empfindung hat. Wenn ich einen Artikel schreibe, lege ich ihn immer erst Erika vor. Häufig sind kleine Fehler drin, entweder ich erzähle den Inhalt korrekt, aber vergesse irgendetwas, oder ein wichtiges Wort ist falsch. Dadurch, dass sie den Text gegenliest, wird er jedes Mal noch etwas besser.

Erika: Ich empfinde mich selbst sehr oft als unleidlich. Ich bin sprunghaft und neige zu impulsiven Handlungen. Ulrich erträgt das alles geduldig. Ich weiß, ich könnte nach Hause kommen und sagen: Ich war so wütend, ich habe dem eine Flasche über den Kopf gehauen. Ich glaube, der ist jetzt tot. Dann würde mein Mann sagen: Komm, wir setzen uns in die Küche, wir trinken ein Glas Wein, und du erzählst mir das in aller Ruhe. Ich habe dieses ganz sichere Gefühl: Was immer ich auch tue, mein Mann steht zu mir. Das ist ein unglaubliches Geschenk.

Ulrich: Also ich bin der geduldige Mensch, sie ist der impulsive Mensch. Und das passt gut zusammen.

Erika: Ich glaube, ich habe meinen Mann genommen, weil er einer der wenigen Menschen ist, die ich kenne, der Widerspruch ertragen kann.

Haben Sie nie aneinander gezweifelt?

Ulrich: Gezweifelt an unserer Beziehung hätte ich nicht. Ich war mitunter, wenn wir uns gestritten haben, auch niedergeschlagen. Aber es hat nie lange gedauert, bis wir wieder "on speaking terms" waren. Es war viel stärker das Gefühl, dass man eben doch zusammengehört und dass man Verletzungen, wie einer sie vielleicht empfindet, wieder überwinden kann durch Zuneigung und Verständnis für den anderen.

Erika: Gezweifelt habe ich nie, aber auch Beziehungen unterliegen ja einer gewissen Wellenform. Mal ist man näher, mal ist man etwas ferner. Und dann kommt bei uns hinzu, dass wir wirklich sehr viel gearbeitet haben. Manchmal hab ich mich auch ein bisschen alleingelassen gefühlt, als unsere beiden Töchter noch klein waren und ich nicht reisen konnte. Das waren Phasen. Das Gute war, dass man irgendwann darüber reden konnte. Und beide einsahen, dass man etwas verändern muss und kann. Dann hat uns natürlich auch immer verbunden, dass wir eigentlich Außenseiter waren. Dass wir gegen den Strom schwammen mit dem Programm, das wir im Arsenal machten. Dass wir auch politisch nicht zur Mehrheit gehörten.

Wie meinen Sie das?

Erika: Bis in die siebziger Jahre galten wir im Westen manchmal als Kommunisten, weil wir Filme aus dem Ostblock spielten. In der DDR dagegen sagten uns Funktionäre, wir könnten nicht zu ihnen gehören, wir seien ja linksradikal. Das heißt, wir hatten immer die gemeinsame Verteidigungsfront. Oder die strikte Ablehnung des Nazismus und der Katastrophen, die unsere Elterngeneration angerichtet hat. Auch das ist immer ein ganz starkes Band zwischen Ulrich und mir gewesen.

Ulrich: Es war sozusagen ein gemeinsamer Kampf, was die Arbeit betrifft. Wir mussten immer um Anerkennung ringen. Wir haben immer nur das gemacht, was uns selbst wichtig schien und uns Freude machte, und sind keine Kompromisse eingegangen. Wir haben lange Zeit umsonst gearbeitet, weil da überhaupt kein Geld zu verdienen war mit unserem Verein "Freunde der Deutschen Kinemathek".

Sprechen wir von heute. Herr Gregor, was kann Ihre Frau besser als Sie?

Ulrich: Wir haben im Garten einen Swimmingpool. Meine Ansprüche an die Temperatur sind hoch, ich kann nicht ins Wasser gehen unter 26 Grad. Meine Frau ist da viel kühner. Schon im April drängt sie, dass das Wasser eingelassen wird. Und dann stürzt sie sich sofort hinein, egal wie kalt es ist.

Und Ihr Mann, Frau Gregor?

Erika: Ulrich kann alles reparieren. Ich glaube, man könnte mit ihm sogar in der Wildnis überleben.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen die Zeit davonläuft?

Erika: Ja. 1969 sind wir in dieses Haus hier im Eichkamp gezogen. Alles, was in den letzten 40 Jahren mit Film zu tun hatte, ist hier irgendwo abgelegt. Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Filmplakate, Einladungen, Briefe. Zuerst ging das eine Kind aus dem Haus. Wunderbar: ein Archivzimmer. Alles abgelegt. Dann das zweite Kind. Wunderbar: wieder ein Archivzimmer. Dann starb meine Mutter. Wieder ein Archivzimmer. Auch in den drei Kellerräumen liegen Sachen, ungefähr einen Meter hoch. Es muss eigentlich aufgeräumt und archiviert werden. Und eigentlich kann ich das von niemandem als von mir selbst verlangen. Das Beste wäre, nach unserem Tod würde dieses Haus ein Museum.

Ulrich: Das ist vielleicht keine schlechte Idee. Was hier alles an Schätzen zu bergen ist und was man in Form einer Geschichte daraus schreiben könnte. Das sind alles Dinge, die ich noch vorhabe. Ich vertraue darauf, dass ich das noch schaffen werde. Obwohl der Verstand das nicht ganz bestätigen mag.

Dieser Schluss ist mir jetzt zu traurig. Herr Gregor, haben Sie Ihre Frau jemals im Kino geküsst?

Ulrich: Das wage ich nicht zu bestätigen, kann es aber auch nicht dementieren. Aber wir sitzen immer nah beieinander.

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