Montagsinterview mit der Sportlerin Anna von Boetticher: "Als wäre da ein endloser Horizont"

Anna von Boetticher ist deutsche Meisterin in mehreren Disziplin des Apnoe-Tauchens - Tauchen ohne Sauerstoffflaschen. Schon bald wird sie wieder im Ausland sein und ganz tief unten.

Anna von Boetticher in ihrer zweiten Haut Bild: Julia Baier

taz: Frau von Boetticher, gibt es etwas, wovor Sie Angst haben?

Anna von Boetticher: Ja. Ich hasse es zum Beispiel, von irgendwo runterspringen zu müssen. Schon ein Dreimeterbrett ist mir zu viel.

Aber 100 Meter unter der Wasseroberfläche ohne Sauerstoffflasche haben Sie keine Angst?

Das Tauchen: Anna von Boetticher begann bereits während ihrer Schulzeit mit dem Tauchen. Seitdem hat sie das Meiste probiert, was man im Tauchbereich machen kann: Tauchen mit und ohne Geräte, in geringen und in sehr großen Tiefen. Seit gut 15 Jahren arbeitet sie als Tauchlehrerin.

Die Rekorde: Derzeit hält sie den deutschen Rekord unter anderem in folgenden Wettkampfdisziplinen: konstantes Gewicht (Ab- und Auftauchen mit Flossen oder Monoflosse aus eigener Kraft) mit 60 Metern Tiefe, konstantes Gewicht ohne Flossen (Ab- und Auftauchen ohne Flossen oder Hilfsmittel) mit 40 Metern, variables Gewicht (Abtauchen mit einem Gewicht, das am Seilende zurückgelassen wird, auftauchen aus eigener Kraft) mit 100 Metern, Streckentauchen mit Flossen mit 164 Metern und Zeittauchen mit sechs Minuten zwölf. Spätestens hier wird klar, was Apnoe heißt: Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet "ohne Atem".

Das Leben: Die 41-Jährige pendelt zwischen London, wo ihr Freund lebt, und Berlin, wo sie einen Buchladen betreibt. Dort kümmert sie sich unter anderem um den Einkauf. Dazu sagt sie: "Ich fühle mich nicht wirklich als Buchhändlerin, ich habe das ja auch nicht gelernt, sondern den Laden einfach aufgemacht. Ich wähle die Bücher nicht nach Kriterien des Buchhandelsgeschäftes aus, weil ich die gar nicht kenne. Bestsellerlisten lese ich so gut wie nie."

Nein, das ist kein Problem.

Wie kommt das?

Ich habe wohl ein Tauch-Gen. Wir hatten zu Hause einen Pool, schon als Kind bin ich ständig getaucht. Mit sieben, acht Jahren hatte ich im Bücherregal ein Buch gefunden, in dem beschrieben wurde, wie man richtig taucht - auch ohne Geräte, also nur mit Flossen. Das habe ich dann geübt. Und schon da habe ich es geschafft, so weit zu kommen, dass ich Kontraktionen hatte - dass also mein Zwerchfell sich von selbst bewegt hat und praktisch atmen wollte.

Das war nicht so ganz ungefährlich, oder?

Na ja, nicht so ganz. Es war natürlich eine Grenze, von der ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, was danach passiert. Aber ich habe mich schon damals wohlgefühlt unter Wasser.

Haben Sie damals gemerkt, dass Tauchen Ihnen leichter fällt als anderen?

Ja, in einer Situation schon. Wir waren im Urlaub, segeln in Griechenland. Mein kleiner Bruder hat abgewaschen und mit dem Abwaschwasser sämtliches Besteck über Bord geworfen. Da waren wir vielleicht in 15 Metern Wassertiefe vor Anker. Und ich war die Einzige, die runterschwimmen konnte, um es hochzuholen.

Sie haben trotzdem erst einmal mit Gerätetauchen angefangen.

Genau, mit 17 habe ich meinen ersten Tauchkurs gemacht. Es waren uralte Geräte, nicht die Ausrüstung, die man heute hat. Es war dunkel, es war kalt und ich fand es toll.

Das Ganze ist ein ziemlich teures Hobby. Wie finanziert man das als Jugendliche?

Ich habe immer gearbeitet und bin ziemlich schnell selbst Tauchlehrerin geworden. Wenn man freiberuflich arbeitet, kann man einfach mal fünf Monate nach Ägypten gehen, da arbeiten und nebenher selber tauchen.

Wie sind Sie dann zum Apnoe-Tauchen gekommen?

Ich habe irgendwann festgestellt: Das Tauchen ist keine Herausforderung mehr für mich. Es war immer noch wunderschön, aber es war nicht mehr so, dass ich mich vor einem Tauchgang konzentrieren musste und eine Spannung da war. Daher habe ich mit dem technischen Tauchen angefangen, also mit Geräten sehr sehr tief zu tauchen. Das ist, glaube ich, das Gefährlichste, was ich je gemacht habe.

Warum?

Weil man beim Auftauchen Dekompressionszeiten einhalten muss. Das heißt, man muss ganz langsam wieder auftauchen, sonst kann es zum Beispiel zu Lähmungserscheinungen kommen oder auch zum Tod. Wenn es also unter Wasser ein Problem gibt, muss man das unten lösen.

Und deshalb haben Sie mit Apnoe angefangen?

Genau. Ich wollte einfach wissen, wie viel Luft ich habe, wenn in der Tiefe etwas schiefgeht. Eigentlich sollte es nur ein Wochenend-Workshop sein, in England, auf einer Marinebasis. Die hatten einen Tauchturm von 28 Metern Tiefe. Nach zwei Stunden üben war ich auf dem Boden und dachte, okay, wo gehts hier weiter? Das ist jetzt vier Jahre her. Seitdem bin fast gar nicht mehr mit Geräten getaucht.

Obwohl Sie beim Tauchen erfolgreich waren, haben Sie es nicht zum Beruf gemacht.

Ich wollte das nie hauptberuflich machen. Da geht man doch ein vor Langeweile und Routine, das beansprucht mich geistig nicht genug. Tauchen ist für mich eine Leidenschaft, die ich mir durch den Berufsalltag nicht verderben will. Viele Tauchlehrer, die ich kenne, wechseln irgendwann ins Management von der Tauchbasis und gehen dann nie wieder tauchen. Das wäre nichts für mich.

Stattdessen haben Sie etwas studiert, das mit Tauchen so gar nichts zu tun hat: Theaterwissenschaft und Komparatistik. Und sind jetzt Mitinhaberin eines Buchladens in Kreuzberg.

Na ja, es ist nicht so, dass es dazwischen nichts gäbe. Ich habe noch in London bei Christies ein Jahr Kunstgeschichte studiert, dann dort in einer Galerie gearbeitet. Den Buchladen gibt es erst seit fünf Jahren.

Einen Buchladen führen und Tauchen wirkt trotzdem wie ein Gegensatz.

Ist es aber gar nicht. Die Ruhe, die man haben muss, passt zu beidem. Und die Pausen vom Tauchen nutze ich auch gerne, um zu lesen. Die Leute denken immer, Freitauchen ist Adrenalin, aber das stimmt nicht. Adrenalin ist unser Feind, denn es führt dazu, dass die Reserven ganz schnell aufgebraucht sind.

Lesen ist ein gutes Training?

Genau.

Sechs Minuten und zwölf Sekunden war Ihr längster Atemzug, deutscher Rekord. Das klingt nicht nach Ruhe oder Spaß, sondern nach Quälerei.

Nein, Spaß ist das wirklich nicht. Auch wenn ich mit dieser Zeit den deutschen Rekord halte, ist es nicht die Disziplin, die ich mag. Aber ich muss das Luftanhalten natürlich trainieren, um in die Tiefe gehen zu können.

Stellt sich der Körper mit der Zeit auf die Tiefe ein?

Auf alle Fälle. Alle Säugetiere, also auch wir Menschen, haben noch ein Überbleibsel aus Urzeiten, den sogenannten Tauchreflex. Er bewirkt, dass in dem Moment, in dem das Gesicht Kontakt mit Wasser hat, der Körper eine Art Sauerstoff-Sparprogramm abfährt. Das ermöglicht, länger unter Wasser zu bleiben. Zum Beispiel wird das Gehirn immer noch mit Sauerstoff versorgt, Arme und Beine aber irgendwann nicht mehr. Der Köper schützt mich also. Dieser Tauchreflex wird mit Training stärker. Wer beim ersten Training nach 24 Sekunden den Atemreiz hatte, hat ihn nach ein paar Mal trainieren vielleicht nach zwei Minuten fünfzehn. Und sich mal eben zwei Minuten die Welt zehn Meter unter der Wasseroberfläche anschauen zu können, einfach so, das ist schon ein einmaliges Erlebnis.

Kann man das überhaupt so bewusst wahrnehmen, wenn man sich die ganze Zeit auf seinen Körper konzentrieren muss?

Ja, klar. Ich nehme aber insgesamt Sachen sehr bewusst wahr. Ich kann immer ziemlich genau sagen, warum mir ein Buch oder ein Film gefällt oder eben, was mir an einem Tauchgang oder einer Unterwasserlandschaft so gut gefallen hat.

Und was ist es, das Ihnen 100 Meter unter der Wasseroberfläche gefällt?

Für mich gibt es zwei Seiten beim Tauchen: Die eine ist etwas anzuschauen, wie ein Riff, Wracks, Fische, was auch immer. Das wird nie langweilig. Die zweite Seite ist das pure physische Erlebnis, mich in diesem Element aufhalten zu können, ein Teil des Ozeans zu sein, diese Orte erleben zu können. Und das ohne das ganze Technik-Gerödel, nur ich mit einer Lunge voll Luft. Auch in hundert Metern Tiefe habe ich die Umwelt intensiv wahrgenommen: das tiefe, dunkle Blau des Wassers und auf dem Weg nach oben eine Wasserscheide in ungefähr 60 Metern Tiefe, die aussah, als wäre da ein endloser Horizont, über den ich hinausschwimme. Wunderschön.

Haben Sie selbst schon kritische Situationen erlebt?

Beim Gerätetauchen sicher. Es gibt immer Momente, in denen etwas nicht so funktioniert, wie es soll. Auch beim Apnoe-Tauchen gab es Momente, wo ich dachte, das ist jetzt nicht so toll.

Zum Beispiel?

Bei einem Trainingstauchgang hatte ich in 92 Meter Tiefe einen Krampf in beiden Beinen. Da habe ich mich am Seil hochgezogen. Wichtig ist dann, die Ruhe zu bewahren und nicht in Panik auszubrechen. Sonst verbrennt man seine Energie schnell.

Wie ist man denn abgesichert, wenn man runtergeht?

Man taucht immer mit Seil, an dem ist man mit einer Art Karabiner befestigt. Am Ende des Seils ist eine Scheibe, an der man nicht vorbeikann. Zusätzlich sagt man vor dem Tauchgang seine Tiefe an und das Seil wird genau auf diese Tiefe hinuntergelassen. Ich kann also weder in die Tiefe noch in die Weite verlorengehen. Und bei den letzten 30 Metern beim Auftauchen begleitet einen ein anderer Taucher. Die letzten 30 Meter sind die kritischsten, weil dann die Luft am knappsten wird.

Was könnte schlimmstenfalls passieren?

Eine Ohnmacht. Dann müsste mich der zweite Taucher hochbringen oder, falls ich noch zu tief bin, man wird am Seil hochgezogen. Sobald man an der Luft ist, wacht man auch wieder auf.

Wenn jetzt jemand völlig Untrainiertes das ausprobieren wollte - was sollte er machen?

Einfach mal die Luft anhalten. Auf dem Sofa, auf keinen Fall in der Badewanne! Dabei sind schon Leute ertrunken. Aber zu erleben, was es heißt, nicht zu atmen und dabei völlig entspannt zu sein, das kann jeder. Und es kann auch jeder erleben, dass irgendwann ein Atemreiz kommt, aber die Luft dann noch lange, lange nicht verbraucht ist. Der Trick ist, dass man eine Serie von Tauchgängen machen muss. Dann startet der Körper den Tauchreflex. Also beim Probieren nicht einmal die Luft anhalten, sondern vielleicht vier Mal. Dann wird es länger gehen.

Ihr Sport ist Ihr Hobby, gleichzeitig ist es Leistungssport. Doch es gibt weder Sponsoren noch Preisgelder. Warum nicht?

Es ist eine sehr kleine Disziplin. Außerdem kann man nicht zuschauen. Man sieht jemanden tief Luft holen und ein paar Minuten später wieder auftauchen. Na toll. Und das Image des Sports ist nicht so gut, viele halten ihn für zu gefährlich.

Es gab auch tödliche Unfälle.

Das war aber immer in einer anderen Disziplin. "No limits" heißt die, und da tauchen die Menschen mit Hilfsmitteln wieder nach oben und nicht aus eigener Kraft. Die Taucher testen einfach mal die absolute Grenze des Menschenmöglichen aus. Das wäre, wie ohne Sauerstoff, Seile oder Hilfe auf den Mount Everest zu klettern. Und bei No limits haben wir wieder ein ähnliches Problem wie beim Tauchen mit Geräten: Wenn die Technik versagt, wird es gefährlich.

Ist das ein Nachteil, dass es keine Sponsoren gibt?

Klar. Aber es ist auch ein Vorteil. Dadurch, dass es nichts zu gewinnen gibt, sind wir Apnoe-Taucher wie eine Familie. Ein Beispiel von der WM in Dänemark: Ich hatte den letzten Platz in der Qualifikation fürs Finale gemacht und war dann als Zeitansagerin und mentale Unterstützung für meine direkte Konkurrentin Elisabeth Kristoffersen aus Norwegen im Einsatz. Und ich habe sie an meiner Zeit vorbeigecoacht, ins Finale hinein und mich raus. Das ist völlig normal bei uns. In dem Moment, wo es Geld zu gewinnen gäbe, wäre das natürlich sofort vorbei.

Sie haben es in nur wenigen Jahren an die deutsche Spitze geschafft, halten Rekorde in sechs Disziplinen - gutes Training oder braucht man dazu mehr?

Das Bild von Apnoe-Tauchern ist oft so das von Übermenschen, mit riesigen Lungen, die den ganzen Tag nur Yoga machen und Körner essen. Das ist Quatsch. Meine Lunge etwa ist ein Viertel kleiner, als es eigentlich für meine Größe normal wäre.

Und wie gleichen Sie das aus?

Ein wichtiger Teil beim Apnoe-Tauchen ist der Kopf. Das macht sicher zwei Drittel aus. Dass man die Ruhe hat, das Selbstvertrauen, aber nicht übermütig wird. Respekt ja, Angst nein. Ich habe keine Lust, mein Leben aufs Spiel zu setzen, und achte daher sehr genau auf meine Grenzen.

Ist das Training oder gehört das zum Tauch-Gen?

Ich denke, es gehört zu einem Teil zum Tauch-Gen. Aber ein bisschen kann man auch daran trainieren. Ein Vorteil für mich ist, dass ich durch das technische Tauchen den Lebensraum da unten schon kenne, ich war schon in 130 Metern Tiefe. Wenn ich jetzt ohne Geräte tauche, weiß ich, was mich erwartet.

130 Meter, glauben Sie, das schaffen Sie auch ohne Geräte?

Das wäre natürlich phänomenal. Ich weiß zwar nicht, wo meine Grenze ist, ich weiß aber, dass ich sie noch nicht erreicht habe.

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