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Musikbiennale von VenedigDer innere Leitstern

Caterina Barbieri versucht als künstlerische Direktorin den Geist der experimentellen Szene nach Venedig zu bringen. Die 69. Musikbiennale hat begonnen.

Die Barchini-Bootsprozes­sion erreicht am Samstagabend das Arsenale-Gelände Foto: Andrea Avezzù, Courtesy La Biennale di Venezia
Julian Weber

Von

Julian Weber aus Venedig

Ein verblüffender Moment am Sonntag während der Verleihung des silbernen Löwen für „Cry of our Guardian Star“, ein Auftragswerk von US-Künstler:In Elysia Crampton für die 39. Musikbiennale in Venedig. Im Biennale-Palast kommt Elysia Crampton für ein Gespräch mit Andrea Lissoni (Kurator am Münchner Haus der Kunst) auf die Bühne.

Im weißen Jeans-Anzug und weißen Stetson-Hut, brauner Lederjacke und einem karierten Poncho erwidert Crampton die erste Frage von Lissoni mit einem Griff in den Medizinbeutel. Eine Heilpflanze wird hervorgeholt. Mit den Worten „Lass uns essen“, reicht Crampton dem Kunstkurator das Kraut. „Medicine as Power“ wird später deklamiert.

Zuvor verliert sich Crampton in einem Monolog über die Bedeutungen von Wasser, Luft, Landschaft und einer Katze, der in der indigenen Kosmologie der kalifornischen Wüste seherische Bedeutung zukommt. Elysia Crampton kaut weiter, die Backentaschen voller und voller. So ganz kann ich den Ausführungen nicht folgen. Muss ich auch nicht. Das Motto der 39. Musikbiennale „The Star Within“ verkörpert Elysia Crampton auch so. Die bizarre Mischmusik aus Kalifornien weist den Weg – während die Heilpflanze von einer Backentasche in die andere wandert.

Verführerischer Subwoofer-Schall

Am Tag zuvor eröffnete Cramptons musikalische Bootsprozession den Reigen. Lautsprecher sind auf neun Barchini installiert, kleinen Barken mit Außenborder, die den Kanal unter der Brücke „Ponte dei Giardini“ nahe dem Arsenale hindurchgleiten. Ihr Subwoofer-Schall weht hinter den Booten verführerisch her.

Im letzten der neun Barchini sitzen Elysia Crampton und Bruder Joshua, diesmal in azurblauen, metallisch blinkenden Mariachi-Anzügen und breitkrempigen Stetsons. Zwei Gestalten aus einem David-Lynch-Film auf einer Barke in der Lagunenstadt. Der Film „Atlantide“ des italienischen Filmemachers Yuri Ancarani kommt in den Sinn, der die Subwoofer-Subkultur der venezianischen Jugend zum Drama inszeniert. Heute dringen aus den Lautsprechern verspulte Gitarren, leicht sonnenstichige Samplesounds, somnambul fühlt sich diese Musik an.

Die Biennale

Noch bis zum 25. Oktober.

www.labiennale.org/en/music/2025

Beim Auftaktkonzert am Isolotto des Arsenale geht die Style-Verwirrung weiter. Die Cramptons droppen unter dem Titel „Los Thuthanaka“ harschen Noise, aufgebohrt mit Cumbiabeats, wieder Metal, aber auch Oregon-artiger ECM-Fusion, dazu Radiojingles: „Full Mix en Vivo“. Im Katalog wird theoretisch nachgewürzt: „Verwurzelt in der Aymara-Kosmologie und im antikolonialen Denken, werden Folktraditionen mit digitalen Technologien und Clubkultur-Anmutung fusioniert, um Sounds zu kreieren, in denen Identitäten, Geschichte und Widerstand zusammenfließen.“

In Venedig fließt sowieso alles zusammen. Das müffelnde Brackwasser der Kanäle mit der Adria, schlingernde Bootsmotoren mit den bröckelnden Fassaden der Paläste, Disneyland-Selfiestick-Overtourism mit den griesgrämigen Bediensteten der Serviceindustrie, die diese molto-crazy Atmosphäre scheinbar stoisch ertragen. Irgendwo in diesem morbiden, spätkapitalistischen All-Inclusive fügt sich auch der indigene Fusionambientbarock als Soundtrack ein.

Weltpremiere von „Travelling Light“

Trotzdem ist man auch erleichtert, als im Teatro alle Tese im Arsenale am Abend die Weltpremiere von „Travelling Light“, einem Liederzyklus des portugiesischen Gitarristen Rafael Toral ansteht. Langsam schleicht der Künstler auf die Bühne, in der Hand ein Messgerät, mit dem er die Akustik des Gewölbes knacksend und morsend austestet. Als er dann schließlich zur Gitarre greift, geschieht jenseits von Fließbewegungen, die per Fußpedal ausgelöst werden, nur Sparsames.

Toral surft auf timegestretchten Lehntönen. Gelegentliche Jazzharmonien der Bläsersektion ringen um Aufmerksamkeit, mit behutsamer Saudade inszeniert. Das Zusammenspiel klappt am besten mit dem Hornisten Yaw Tembe und dem Klarinettisten José Bruno Parrinha, die jeweils über die Tonkaskaden von Toral improvisieren, bis eine Art Ellington-Suite-Anmutung entsteht. Diese Musik ist gut fürs Karma.

Exorzistisch zum Kehraus um Mitternacht wird es dagegen mit der belgisch-kongolesischen Künstlerin Nkisi und der Weltpremiere von „Anomaly Index“, ihrem Stück für „Nord Wave 2, HPD-20, schnurlosen Mikrofonen und weiteren Plug-ins“. Den Gerätepark hat die Künstlerin – ganz in Schwarz – wie eine Wagenburg um sich gruppiert. Das künstlerische Vorhaben: monströser Lärm.

Fast schon meditativ wirken die gelegentlichen Schläge auf zwei Rotodrums und einige Becken. Das Noise-Herz der Finsternis dringt in jede Ritze des riesigen Raums. Man vergisst alles, was man über kongolesische Musik weiß und lernt Neues über die Brüsseler Industrialszene und ihre tribalistische Electronic-Body-Music. Hinaus in die sternenklare milde venezianische Nacht.

Venezianische Musik im 16. Jahrhundert

Musik war schon im Venedig des 16. Jahrhunderts allgegenwärtig und hatte für alle sozialen Klassen Bedeutung. Sie spielte an katholischen Festtagen und im Karneval. Im 17. Jahrhundert gab es 18 Theater in der Stadt, an vielen Häusern gehörten Musiker zum Ensemble.

Das kulturelle Erbe Venedigs empfindet Caterina Barbieri, künstlerische Direktorin der Musikbiennale, eher als Hemmschuh, gesteht sie anderntags der taz. Barbieri, selbst gefeierte Elektronik-Komponistin, hat ihrer Heimat schon als Studentin den Rücken gekehrt und wurde in Stockholm ausgebildet. Inzwischen ist sie regelmäßig auch in der experimentellen Berliner Szene zu Gast und versucht, den freien Geist von dort auch bei der Musikbiennale zu etablieren.

Was das vielfältige Programm anbelangt, ist ihr das gelungen, und man sieht auch am gemischten Publikum, dass ihre Arbeit ankommt. „Musik ist der innere Leitstern“, schreibt Barbieri im Katalog. „Sie erfüllt unsere Sehnsucht für Größeres … öffnet für die Unendlichkeit des Kosmos.“

Am Sonntag bekommt man eine Ahnung von jener cosmic music, als der französische Komponist Maxime Denuc im Arsenale seine dreiteilige, MIDI-gesteuerte Pfeifenorgel für die Weltpremiere von „Elevation“ präsentiert. Ein Werk beeinflusst von Bach und dem Berliner Dubtechnoproduzenten René Loewe (alias Vainqueur). Denucs 360-Grad-Technofuge lädt zum Deep Listening ein, denn die Ellipsen der Orgelpfeifen, ihre Drones werden zur wellenförmigen körperlichen Erfahrung.

Viel Publikum für William Basinski

Publikumsmagnet ist am Eröffnungswochenende William Basinski. Offensichtlich treffen seine impressionistische Pianoloops den Massengeschmack. Vier Flügel und zwei Pauken stehen auf der Bühne, das Publikum drumherum. Schon mit der Begrüßung zieht der US-Künstler die Sympathien auf sich: „Gut, dass ihr sitzt, wir sind müde.“

Übermüdet wirkt auch die Weltpremiere seines „Garden of Brokenness“, eine minimalistische Pianofigur, versetzt und im Tempo zerdehnt. Dazu gewähren zärtliche Tupfer auf die Pauken Streicheleinheiten. Erschöpfung und Melancholie treffen geradewegs den Empathie-Nerv. Mir war es allerdings zu verschmust.

Sofort liefert der afroamerikanische Produzent Speaker Music (Deforrest Brown Jr.) die Antithese. Setzt sich ans Laptop, betätigt eine Taste und stützt einen Ellbogen auf. Aus den Boxen kommt eher keine „Speaker Music“, sondern satte Übersteuerung. Der Komponist selbst schreibt von „synoptic audio“, er steuert künstlerische Höhepunkte der great black dada music an, verweilt aber nur kurz.

Das ist genau das Problem, denn auch die guten Momente seiner Überwältigungtaktik versanden im Lärm. Andererseits weckt das Konzert von Speaker Music auf, erfrischt, wie fast alles an diesem Auftaktwochenende der Musikbiennale.

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