Mediziner über Musiker-Krankheiten: „Üben kann Nebenwirkungen haben“

Macht Musik krank oder glücklich? Der Querflötist und Neurologe Eckart Altenmüller über die Erforschung des Hörens und des Musizierens.

Für ihn selbst war Üben immer selbstverständlich: Eckart Altenmüller beobachtet die Feinmotorik eines Pianisten Foto: dpa

taz: Herr Altenmüller, auf dem Weg zu Ihnen habe ich über Kopfhörer Musik gehört. Hätten Sie mir davon abgeraten?

Eckart Altenmüller: Nein, das ist gut für Sie. Musik hat ja viele Wirkungen und solange Sie sich dabei wohlfühlen, ist das nur gut. Und mit den meisten Geräten kann man gar nicht zu laut Musik hören.

Sie erforschen Musiker-Krankheiten. Welche sind typisch?

Hier am Institut machen Schmerzprobleme den weitaus größten Teil aus. Wir sehen etwa viele Geiger und Bratscher mit Schulterbeschwerden, Pianisten mit chronischen Rückenschmerzen oder Gitarristen mit klassischer Sehnenscheidenentzündung.

Klingt, als wäre es gesünder, keine Musik zu machen.

Na ja, zu viel Musik ist nicht gesund, zu wenig aber auch nicht. Solange Sie Ihr Instrument mit Freude spielen, haben Sie eine größere Gesundheitschance, eine etwas längere Lebens­erwartung und auch Ihr Gehirn bleibt erwiesenermaßen jünger. Interessant ist jedoch, dass die Hirne von Berufsmusikern wiederum ebenso schnell altern wie die von Nichtmusikern.

geboren 1955 in Rottweil, habilitierter Neurologe und studierter Querflötist, ist Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin (IMMM)an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover sowie deren Vizepräsident.

Sie sind Professor für Musikphysiologie. Wie haben Sie sich für die Kombination aus Medizin und Musik entschieden?

Das war eine Verkettung von glücklichen Zufällen. Ich habe erst zwei Jahre Medizin studiert, und wurde dann von meinem Flötenlehrer in Paris ermutigt, auch Musik zu studieren. Als ich beide Studien abgeschlossen hatte, begann ich in der Hirnforschung die Unterschiede von Musiker- und Nicht-Musikergehirnen zu untersuchen. Das faszinierte mich so, dass ich den Facharzt für Neurologie machte. Der nächste Zufall: Als ich meine Habilitation abgeschlossen hatte und Oberarzt an der Uni-Klinik in Tübingen war, flatterte 1992 eine winzige Stellenanzeige auf meinen Schreibtisch: „Institut für Musikphysiologie in Hannover zu besetzen…“.

Ist diese Spezialisierung einzigartig?

In dieser Kombination gibt es nur noch wenige Menschen in der Welt. Etwa Professor Alexander Schmidt in Berlin, mein ehemaliger Mitarbeiter und Doktorand, hat das gleiche Profil: Er ist Pianist und Neurologe.

Und was ist nun Ihr Kerngeschäft?

Als Neurologe habe ich viel mit Musikerdystonie zu tun. Diese schwerwiegende Krankheit bedeutet den Verlust der Feinmotorik. Das heißt, dass gerade professionelle Musiker, meistens zwischen 35 und 45 Jahren, Fehlbewegungen entwickeln, die sie nicht kontrollieren können.

Woran liegt das?

Hintergrund ist, dass die Steuernetzwerke für Muskelaktivierung im Gehirn durch zu viel Üben unpräzise werden. Das trifft vor allem Menschen, die erst in der Pubertät angefangen haben, Musik zu machen und dann sehr viel spielen.

Naheliegender wäre, dass das Musizieren nicht wieder verlernt wird – wie Fahrradfahren.

Das ist bis auf Ausnahmen auch richtig. Besonders interessant an der Dystonie ist, dass sie die Grenzen unseres Nervensystems aufzeigt. Ständiges Üben kann – anders als oft behauptet – auch Nebenwirkungen mit sich bringen. Dieses Phänomen kennen wir übrigens auch von Croupiers im Casino, die unter hohem Zeitdruck Chips sortieren müssen. Oder beim Golfen, wenn bei einfachen Putts die Hände zu zittern beginnen.

Lässt sich solchen Berufskrankheiten vorbeugen?

Prävention ist ein zentrales Ziel des Instituts. Wir bringen unseren Studierenden bei, Angst- und Stresssituationen zu vermeiden. Dafür brauchen sie von Beginn an Freude an ihrem In­stru­ment. Erst dadurch kann eine intrinsische Motivation entstehen. Studenten, die vor Angst zerfließen oder zu Perfektionismus neigen, nehmen wir darum gar nicht erst auf.

Was genau lernen die Musikstudierenden bei Ihnen?

Einen bewussten Umgang mit dem eigenen Körper: Sport, ausreichend Pausen und Schlaf, nicht Rauchen, wenig Alkohol, Stressmanagement. Natürlich müssen auch sie täglich vier Stunden üben, um ihre Feinmotorik auf höchstem Niveau zu halten. Genauso wichtig ist aber, dass sie sich selbst mental und körperlich pflegen.

Wie kommt es, dass Sie ausgerechnet in Hannover forschen und lehren?

Das Institut entstand durch die visionäre Haltung von Professor Richard Jakoby, Präsident der Hochschule von 1979 bis 1993. Er glaubte, dass die Wissenschaft auch Musikern helfen kann, ihre Potentiale besser auszuschöpfen. Hannover ist aber schon lange einer der wichtigsten Musik- und Hörstandorte Europas: Neben der Hochschule gibt es zahllose Bildungseinrichtungen, Musiker- und Patientengruppen, die sich um das Hören kümmern. Mit ihnen haben wir uns zur „Hörregion Hannover“ zusammengeschlossen. Natürlich gehört da auch dazu, dass wir Unesco-Weltmusikstadt sind; oder die weltweit erfolgreiche Musikindustrie, Sennheiser etwa oder die Kind-Hörgeräte. Noch dazu haben wir an der Medizinischen Hochschule das „Cochlear Implant Centrum“, wo tausenden Menschen das Hören wiedergegeben wird.

Waren Sie selbst ein Wunderkind?

Ich habe sieben ältere Geschwister, die alle Musik gemacht haben. Das wurde mir also in die Wiege gelegt. Ab fünf Jahren bekam ich Klavierunterricht und mit neun durfte ich ein zweites Instrument auswählen: die Querflöte. Leider musste ich dann noch ein paar Jahre warten, weil meine Flötenlehrerin mich erst nach dem Durchkommen der zweiten Zähne unterrichten wollte.

War Ihnen das ständige Üben nie zu viel?

Nein, das war eine Selbstverständlichkeit. Ich war immer fasziniert von Klängen. Meine Klavierlehrerin war eine schlesische Gräfin, ich habe sie verehrt. Und wenn ich zuhause am Klavier improvisierte und mein Vater nebenan gearbeitet hat, hat er immer die Tür zu seinem Büro aufgemacht. Wir haben nie darüber gesprochen, aber seine Teilhabe an meinem Spiel hat mich total motiviert.

Wie steht es heute um die musikalische Bildung?

Die familiäre Musiksozialisation mit Kinderliedern und Singspielen nimmt ab, auch weil viele Eltern nicht singen wollen, schließlich ist dies sehr intim, man zeigt gewissermaßen sein Innerstes. Neue Umfragen zeigen aber, dass viele Jugendliche sich etwa mithilfe von Youtube selbst Instrumente beibringen. Diese nicht-formale Musikalisierung nimmt zurzeit wohl enorm zu.

Wie können unmusikalische Eltern ihre Kinder an die Musik heranführen?

Fangen Sie nicht zu bald mit Instrumentalunterricht an, ab sechs Jahren wäre es schon früh. Und dann kommt es vor allem auf eine gut ausgebildete Lehrerin an, die das Kind als autonom wahrnimmt, also zum Beispiel selbst Lieder auswählen lässt. Wichtig ist dabei auch der soziale Faktor: Für mich als jugendlicher Flötist war es geradezu berauschend, im Orchester zu spielen, auch weil ich immer wieder herauszuhören war.

Warum dann zunächst das Medizinstudium?

Es war schon der Einfluss meiner Eltern und Geschwister, die Risiken eines künstlerischen Berufs richtig einschätzten. Damals habe ich einfach nicht das Selbstvertrauen gehabt, mich ganz auf eine künstlerische Laufbahn zu werfen. Und nach dem Studium fand ich die Mischung aus Wissenschaft und Kunst so faszinierend, dass ich das nicht aufgeben wollte

Wie sehen Sie die oft beklagte „akustische Verschmutzung“?

Ich gehe gezielt in Restaurants, in denen keine Musik läuft. Ich glaube, dass wir auch hier sensibilisiert sind. Vor 20 Jahren befürchteten viele, dass alle taub werden, die Walkmans nutzen – passiert ist nichts. In der Zwischenzeit achten auch meine Studierenden darauf, ihr Gehör zu schonen. Und selbst Rockmusiker regeln ihre In-Ear-Kopfhörer bei Konzerten stark herunter.

Hören Sie beim Frühstück Musik?

Nein, ich höre zuhause ganz selten, dann aber gezielt Musik. Beim Zubereiten des Frühstücks höre ich meistens Nachrichten im Radio, beim Frühstück selbst lese ich gerne die gute alte, auf Papier gedruckte Zeitung – da bin ich ein Dinosaurier.

Ist Musikhören für Sie überhaupt noch ein Vergnügen?

Natürlich höre ich beruflich sehr viel Musik. Noch lieber als Musik zu hören, mache ich aber selbst welche. In der Regel bleibt die motivierende Kraft von Musik bei Profis das ganze Leben bestehen, so bislang auch bei mir.

Haben Musiker-Krankheiten wie Überlastung nicht vor allem gesellschaftliche Ursachen?

Ja, es ist deprimierend, dass das durchschnittliche Einkommen eines Orchestermusikers nur 11.000 Euro beträgt.* Und trotzdem sagen 90 Prozent der Musiker, dass sie es wieder genauso tun würden. Wir bieten am Institut Weiterbildungen für Berufsmusiker hierzu an. Auch die Arbeitsbedingungen sind mittlerweile deutlich besser geworden.

Gibt es aktuelle Ergebnisse aus Ihrer Forschungsarbeit?

Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass Musiker mit absolutem Gehör zu Autismus neigen. Nun wollen wir systematisch untersuchen, welche autistischen Züge unsere Studierenden haben, um sie dann mit dem Gehör autistischer Kinder zu vergleichen. Auch noch nicht erforscht ist, dass das absolute Gehör mit der Zeit schlechter werden kann.

Können auch musikalische Laien von Ihrer Forschung profitieren?

Ja, wir arbeiten zum Beispiel mit Senioren, die noch nie Musik gemacht haben. Hier wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit herausstellen, dass diejenigen, die regelmäßig Klavier spielen, gerade im Alter eine höhere Lebensqualität haben und dabei die relative Alterung des Gehirns langsamer sein wird.

Demenz kann also vorgebeugt werden, indem viel Musik gemacht und gehört wird?

Wer Musik macht, hat einen eindeutigen Vorteil. Musik zu hören, reicht aber nicht aus. Um fit zu bleiben, benötigt es die emotionale Beteiligung und die anspruchsvollen körperlichen Impulse des Musizierens. Daher ist auch Tanzen sehr gut, um der Demenz vorzubeugen.

Kann Musik Krankheiten heilen?

Musiktherapie kann die Heilung vieler Erkrankungen unterstützen, besonders dadurch, dass sie positive Emotionen erzeugen kann und Lebenskraft gibt. Längst bewiesen ist auch, dass Parkinson durch rhythmische Stimulation und Tanzen verbessert wird. Und nach Schlaganfällen erholt sich die Motorik von musizierenden Patienten deutlich schneller.

Welche Musik hören Sie am liebsten?

Das ist bei mir sehr wechselnd. Ich höre gerne Lieder, etwa von Schumann. Und Flötenmusik, da ich selber Flötist bin. Ich höre gerne auch mal Jazz-Klassiker wie Art Tatum. Im Autoradio höre ich manchmal auch gerne Pop. Über Helene Fischer wird ja viel gelästert, aber sie ist eine tolle Sängerin.

Worauf könnten Sie eher verzichten: Musik oder Medizin?

Die Medizin. Ich glaube, die Musik brauche ich. Und dabei ist es mir am wichtigsten, selbst zu musizieren. Vor 40 Jahren hätte ich das anders beantwortet, aber ich bin auch froh, wenn ich die Arbeit mit Patienten nach 35 Jahren bald abgeben kann.

*(Anmerkung: Herr Altenmüller hat um die Berichtigung einer seiner Aussagen gebeten: Das Jahresdurchschnittseinkommen eines freischaffenden Musikers liegt demnach bei 11.000 Euro, das eines Orchestermusikers bei rund 50.000 Euro.)

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