Mythos Autobahn: Versprechen einer besseren Gesellschaft
Schnellstraßen wie die A 100 galten einst als Zeichen des Fortschritts. Ihre Faszination zu verstehen, hilft, sie zu verhindern.
Allerdings, „die Schlange“, entworfen von Georg Heinrichs, Gerhard und Klaus Krebs, wurde zu einem der größten der vielen Westberliner Bau- und Korruptionsskandale, ein Architektur- und Stadtplanungstrauma. Alle regierenden Parteien wurden erfasst, Senate stürzten, die Alternative Liste erhielt enormen Auftrieb angesichts des lokalen Filzes aus Verwaltungen, Investoren, Gewerkschaften, Genossenschaften, Medien und Politik; die Bürgerinitiative Westtangente wuchs zu einer der mächtigsten ihrer Art und Zeit.
Doch wie stark der positive Mythos Autobahn war und ist, zeigt nicht nur die aktuelle Debatte um den Weiterbau der A 100 in Berlin. In den 1990ern entschloss sich etwa die Bundesrepublik, die von der Europäischen Union zugesagten Gelder nicht in eine ökonomisch und politisch viel sinnvollere Eisenbahn zwischen Hamburg und Tallinn zu stecken, sondern eine nationale Ostsee-Autobahn zu errichten, die direkt vor der Grenze nach Polen Richtung Berlin abbiegt.
Die A 100 verläuft bislang auf 20,9 Kilometern von der Seestraße im Wedding bis zum Dreieck Neukölln an der Grenzallee und bildet einen Halbring um Berlins Innenstadt. Der bislang letzte Teilabschnitt, der 15., wurde 2004 freigegeben.
Der 16. Bauabschnitt verbindet auf 3,2 Kilometern das Autobahndreieck Neukölln mit dem Treptower Park. Eine Anschlussstelle gibt es an der Sonnenallee. Die Trasse verläuft unter der Grenzallee auf 386 Metern im Tunnel und auf 2,3 Kilometern in Troglage. 12 Jahre wurde daran gebaut. Mit Gesamtkosten von 720 Millionen Euro ist es die teuerste Autobahn der Bundesrepublik.
Zur Eröffnung am Mittwochnachmittag verzichten Stadt und Autobahn GmbH des Bundes auf eine öffentliche Einweihungsfeier, sondern laden nur zu einem Festakt ins Hotel Estrel. Die Gegner:innen der Autobahn rufen zu einer Fotoaktion unter dem Motto „Das ist das ENDE“ an der Ausfahrt Treptower Park. Ihre Hoffnung: zumindest den letzten Abschnitt, der bis zur Frankfurter Allee führen soll, zu verhindern. (epe)
Aber auch Polen oder die baltischen Staaten setzten nach 1990 systematisch auf den Ausbau der nationalen Autobahnen, nicht den der transkontinentalen Eisenbahnstrecken. Was sich heute unter anderem aus militärstrategischen Gründen als katastrophale Fehlkalkulationen für den Schutz Europas vor dem russischen Imperialismus herausstellt.
Autobahnen mit Heilsversprechen
Aber der Bau von Autobahnen ist eben mehr als nur der einer Verkehrsinfrastruktur. Er steht aus der Sicht von Generationen von PlanerInnen, PolitikerInnen, InvestorInnen, aber vor allem WählerInnen auch für eine Gesellschaft, die durch den individuellen Autoverkehr verbessert werden kann.
Solche Straßen seien ein Instrument der Demokratisierung, verbänden große mit kleinen Städten, gäben dem Land die Möglichkeit, am Fortschritt der Zentren teilzuhaben. Dass sie, wie in Mecklenburg-Vorpommern, im Speckgürtel von Berlin oder in Mitteldeutschland nach 1990 aufs schmerzhafteste erlebt werden musste, zugleich dazu dienen, das Land nur noch zum Vorland der Metropolen zu machen, wird ignoriert.
Autobahnen und Highways dienen nach dieser Sichtweise auch dazu, die Umwelt zu schonen, weil der Benzinverbrauch angeblich sinke, Wohnviertel von Lärm und Dreck des Durchgangsverkehrs befreit würden.
Volksfest Autobahneröffnung
Die Eröffnung von Streckenabschnitten und gar Tunneln war oft ein gesellschaftliches Ereignis, gefeiert mit Reden, Rummel und Musik. Dass in Berlin die Mächtigen sich in das Hotel mit dem bald höchsten Turm der Stadt zurückziehen, weil sie Proteste fürchten, ist eher die lokal bedingte Ausnahme.
Als in Hamburg der Deckel über der erheblich ausgebauten A 7 eingeweiht wurde, gab es ein Volksfest zur Wiedervereinigung der Ortsteile von Stellingen. Und auch bei dieser Anlage wurde immer wieder das Argument gebracht: Autobahnen sind doch eigentlich schön, eine Leistung der Kultur, der Architektur, der Ingenieurskunst, der Landschaftsplanung. Das war seit Beginn der 1920er Jahre eines der wichtigsten Versprechen der AutobahnplanerInnen.
Aus der Sicht der Zeit war mindestens angesichts der Automobilisierungsquote in Europa die Forderung nach Straßen, die nur einem einzigen Verkehrsträger dienten, volkswirtschaftlich völlig unsinnig: Die Eisenbahn war weit dichter vernetzt, keine Kleinstadt, kaum ein größeres Dorf ohne eigenen Gleisanschluss. Und sie konnte weit mehr Personen und Güter als die Straße transportieren.
Aber solche Straßen, so war das große, auf Ausstellungen und in prachtvollen Bildbänden verbreitete Versprechen, könnten die Landschaft, die Heimat, die Nation zusammenbinden in einem gemeinsamen Erlebnis ihrer natürlichen und von der Zivilisation geschaffenen Schönheiten. Das Versprechen gab es auch in den USA.
Aber dort wurden die für diesen Zweck gedachten Autostraßen eher als Langsamfahrstrecken durch Nationalparks oder touristisch vermarktete Landschaften geführt. Der klassische Highway dagegen ist die möglichst effizient und ablenkungsfrei geführte Linie zwischen Stadt A und Stadt Z.
Im Nordosten der USA oder in Kanada kann man ganze Städte passieren, von denen nur die Zufahrten zu und Abfahrten von den Autobahnen zu sehen sind, ansonsten aber nur scheinbar dichter Wald. Die aus Filmen bekannten, großartig die Weite der Landschaft inszenierenden, schnurgeraden Highways des bevölkerungsarmen Westens sind eher die Ausnahme.
Landschaften für vier Räder
Ganz anders im dicht bevölkerten Europa. Hier werden Autobahnen lieber in weiten Schwüngen an sanften Berghängen etwa entlang der Meeresküsten, der Rhone oder durch die Porta Westfalica geführt. Die Weite der Mark Brandenburg betonen die PlanerInnen mit Kiefernhainen, Ausblicken auf niedrige Dörfer mit spitzen Kirchtürmen und langen Linien ganz vorsichtig gebogen geführter Strecken – schnurgerade Linien dagegen findet man nur selten.
Die Strecke zwischen München und Salzburg ist zugleich ein Panorama erster Klasse, mit herrlichen Blicken auf Wiesen, Zwiebelturmkirchen und dichten Dorfkernen vor der hoch ragenden Alpenkulisse. Der Übergang über den Brenner war, bis der Tunnel ihn effizient, aber auch langweilig machte, das pathetische Auf- und Absteigen auf vier Rädern – bei den schwachen Motoren der Nachkriegszeit auch noch begleitet von der Angst, ob „er“ oder „sie“ das denn schaffen würde.
Wenn Täler gequert werden mussten, um Auf- und Abfahrten der Pkws und vor allem der Lastwagen nicht zu sehr zu erschweren, war das der Anlass für grandiose Brückenbauten, die möglichst auch für die Autofahrer zu erleben sein sollten.
Auffällig oft ist die Anfahrt zu solchen Brücken nicht schnurgerade anlegt. Etwa die im langen Bogen um den Schlosspark Charlottenburg herumgeführte Berliner Rudolf-Wissell-Brücke der A 100. Wieder ist sie auch für die im Auto Sitzenden gut als stadtästhetisches Ereignis zu betrachten – und war 1961 bei der Einweihung nicht nur die längste und schnell auch verkehrsreichste Autobahnbrücke Europas, ein bautechnisches Ereignis, sondern auch ein Zeichen dafür, dass Westberlin im Wettkampf mit Ostberlin, der Kapitalismus mit dem Sozialismus, wieder einmal die Nase vorne hatte.
Systemüberlegenheit des Autos
Charlottenburg ist der Bezirk der dramatisch angelegten Autobahnbrücken und -streckenführungen. Man kann über das verschlungene Autobahndreieck am ICC sagen, was man will – aber aufregend ist es. Und es ist ein politisches Denkmal.
Viel debattiert wurde die Rolle des Autobahnbaues in der Nazizeit: Vor allem die groß inszenierte Lüge Hitlers, er habe den Bau der Reichsautobahnen geplant und begonnen, damit die Arbeitslosigkeit gesenkt, das Land wieder auf Optimismuskurs gebracht – und, Gegengeschichte, es für den Krieg fit gemacht. Tatsächlich spielten die Autobahnen im Krieg kaum eine Rolle.
Wenig beachtet ist hingegen die Rolle des Autobahnbaus im Kalten Krieg. In der Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Westberlin hat sich, beruhend auf Vorplanungen aus dem Büro Albert Speers, seit den 1950er Jahren mit Verve auf den Bau innerstädtischer Autobahnen gestürzt. Das hatte auch etwas damit zu tun, dass Autobahnen gleichzeitig in den USA zum Kennzeichen moderner Stadtplanung geworden waren. Oder Paris sich mit der entlang der alten Festungseisenbahn geführten Peripherique in wenigen Jahren eine vollständig neue Infrastruktur schuf.
Eine Autobahn in der Stadt – auch wenn sie Zehntausende Wohnungen massiv im Wert minderte, die Gesundheit der AnwohnerInnen durch den Lärm und die Abgase gefährdete, die Wirtschafts- und Sozialstrukturen ganzer Stadtviertel zerschnitt – war das Zeichen von Systemüberlegenheit schlechthin.
Dass in den mittelosteuropäischen Staaten nach 1990 die Begeisterung für den Autobahnbau so groß war, die für den als kollektivistisch angesehenen Eisenbahnbau so gering, hing wesentlich mit dieser symbolischen Funktion des Autobahnbaus im Kalten Krieg zusammen.
Asterix und die Autobahn
Diese Rolle ging bis in die Populärkultur: Asterix-Hefte sind oft auch eine große Feier der Nur-Verkehrsstraßen, inklusive quer über die Straße gespanntem Restaurant „Esso-Guck“ und dem heiteren Kellner: „Wenn ihr Glück habt, könnte ihr während des Essens ein Unglück auf der Wagenbahn miterleben.“ Es war erst die Ölkrise 1973, die bei den autofreien Sonntagen den gigantischen Verbrauch von Flächen deutlich machte, auf denen nun kein Verkehr mehr stattfand.
Trotz der ständigen Ausbauten wuchsen die Stauzeiten immer weiter. Je dichter das Netz wurde, desto sichtbarer waren auch seine Eingriffe in als Tradition empfundene Landschaftsbilder, etwa im oberen Maintal, wo die gesamte barocke Raumkomposition zwischen dem fränkischen Kloster Banz und der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen mit dem Ausbau der Autobahn zwischen Thüringen und Bayern immer weiter zerschlagen wurde.
Aber es bleibt weiter zu konstatieren: Solange wir diese Begeisterung für das Bild der Autobahn nicht verstehen, für die Hoffnung, die mit solchen Straßen verbunden ist, wird man sich ihnen nicht politisch wirksam in den Weg stellen können.
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