Mythos Deutschlandachter: Ratzeburger Armkraft

In den Sechzigern wurde der Männer-Achter zum deutschen Mythosboot. Hinter dem Erfolg steckte ein Trainer mit revolutionären Methoden.

Der Trainer und sein Boot 1972: Karl Adam revolutionierte das deutsche Rudertraining mit einem demokratischen Führungsstil Bild: dpa

Es ist der 23. August 1959. Acht Studenten rudern Schlag um Schlag. Sie schreien, feuern sich gegenseitig an. Zweitausend Meter sollen sie auf der Saône im französischen Mâcon zurücklegen – zweitausend Meter bis zur Europameisterschaft. Der Steuermann weist von vorne an: „Und zieh!“

Mit 40 bis 44 Schlägen pro Minute jagen vier Kieler und vier Ratzeburger Ruderer das deutsche Achterboot über den Fluss. Am Ende haben sie dreieinhalb Längen Vorsprung vor Italien. Dreieinhalb Längen auf zweitausend Metern, das gab es in einem EM- oder WM-Finale noch nie. Der Deutschlandachter ist geboren.

Seit jenem „Wunder von Mâcon“ und dem anschließenden Olympiasieg 1960 in Rom kommt dem Männer-Ruderachter in Deutschland eine besondere Bedeutung zu. Der Achter, jenes etwa 17 Meter lange und 55 Zentimeter schmale Boot, gilt beim Rudern als Königsdisziplin, die Maximalgeschwindigkeit liegt bei 25 Stundenkilometern.

Nach der Nation benennt man das Boot aber konsequent nur hierzulande: als „Deutschlandachter“ ist er bekannt, seltener ist vom „Flaggschiff“ die Rede. Auch in zweieinhalb Wochen, am 1. August, wird man daher ein besonderes Auge auf den Dorney Lake nahe Windsor werfen: Dann soll wieder ein Deutschlandachter – nach zuletzt drei Weltmeisterschaftstiteln hoch favorisiert – Olympiagold holen. Erstmals seit 1988.

Ruderhauptstadt der Welt

Begonnen hat alles in Ratzeburg, einem malerischen Städtchen in Schleswig-Holstein, dessen Altstadt auf einer Insel inmitten eines großen Sees liegt. Hier gründete man 1953 den RCC, den Ruderclub Ratzeburg. Nur sieben Jahre später war Ratzeburg die Ruderhauptstadt der Welt.

Blickt man auf die Zeit, in der das Phänomen Deutschlandachter entstand, mag man an die Ruder-Variante des „Wunder von Bern“ denken, an ein wieder erstarkendes Nationalgefühl im Sinne des „Wir sind wieder wer“.

In sportlicher Hinsicht aber läutete der Deutschlandachter eine geradezu progressive Ära ein: Der damalige Coach Karl Adam revolutionierte das deutsche Rudertraining mit demokratischem Führungsstil, er nahm die Sportler als Persönlichkeiten ernst. Als „Prototypen des neuen und modernen Trainers“ hat sein damaliger Schützling Kraft Schepke ihn bezeichnet.

Adam unterrichtete zunächst Leibeserziehung, Mathematik und Physik an der Lauenburger Gelehrtenschule. Eigentlich war er Leichtathlet und Boxer (dort wurde er sogar Studenten-Weltmeister). Nur dank einer Ruder-AG beginnt er, sich mit Wassersport zu beschäftigen. Und das Rudern in seine physikalischen Bestandteile zu zerlegen: Hebelverhältnisse, Körperbewegungen, Material.

Interdisziplinäres Training

Zu seinem Leitsatz wird die Maßgabe: „Die Struktur der Leistung ist auf allen Gebieten gleich.“ Genau so trainiert Adam auch: Interdisziplinär, mit fast wissenschaftlicher Strenge. Adam überführt das Intervalltraining aus der Leichtathletik und das Krafttraining aus dem Gewichtheben in das Rudertraining. Er beginnt, leichtere Materialien für die Boote und andere Blätter (so nennt man die Enden der Paddel) zu benutzen.

Schon bei der Europameisterschaft 1958 siegt der von ihm trainierte Vierer ohne Steuermann. Aber Adam will die große Herausforderung, will in die Königsdisziplin. Er baut einen Achter auf, bestehend aus Athleten von Ditmarsia Kiel und vom RRC. So entsteht jener Deutschlandachter, der über Jahre das Maß aller Dinge bleibt. Sieben Titel bei Welt- und Europameisterschaften und zwei Olympiatitel stehen zwischen 1959 und 1968 zu Buche.

Einer, der unter Adam bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 gewonnen hat, ist Gunther Tiersch, der heute als ZDF-Meteorologe auftritt. Mit gerade einmal 14 Jahren war er Steuermann des Gold-Achters. Tiersch stammt ebenfalls aus Ratzeburg, im RRC ist er von Kindesbeinen an. „Ich habe vorher immer die Siegesfeiern in der Stadt gesehen“, sagt er.

„Und so ist der Traum entstanden, da auch mal oben zu stehen und der Menge zuzujubeln.“ Im Jahr 1966 dann will der alte Steuermann Peter Niehusen aufhören. Er fragt Tiersch, ob er übernehmen will. Klar will er. „Alle drei Steuermänner zwischen 1962 und 1968 haben in derselben kleinen Straße in Ratzeburg gewohnt“, sagt Tiersch.

„Ratze-Kieler“

„Am Hang“ ist die Steuerzentrale des Deutschlandachters der 60er-Jahre. Über Karl Adam sagt Tiersch: „Der war von der Denkweise und von der Methodik ganz anders als jene Lehrer, die wir noch als Kontinuität aus der Nazizeit mitbekommen haben.“ Als Jugendlicher habe er das damals nicht begriffen, aber Adam habe etwa mit seinen Sportlern auch philosophische Probleme gewälzt: „Er war ein sehr unkonventioneller Typ.“

Die Bezeichnung „Deutschlandachter“ hat für Gunther Tiersch „nichts mit wieder erstarkendem Nationalgefühl zu tun.“ Der Name sei eher Zufall gewesen. „Erst hieß er ,Ratzeburger‘ oder ,Ratze-Kieler‘, aber als Sportler aus anderen Städten dazukamen, brauchte man einen anderen Namen.“

Die Faszination des Achterbootes bleibt bis heute. Hans Lenk etwa, der 1960 im Goldachter saß, hat ein Buch über diese Zeit geschrieben. Er sieht das Rudern als den Natursport schlechthin, das Dahingleiten bringt er mit Zen in Verbindung. Und dann ist da noch die einzigartige Kollektivleistung beim Achter: „Kein Oben, kein Unten.

Kein Egoismus, keine Alleingänge, keine Star-Allüren, kein Abweichen. Bündnis, Disziplin, Gleichklang, Verantwortung, Askese, Opfersinn, Freundschaft. Der Achter, das ist die Mannschaft an sich“, schrieb der Schriftsteller Rudolf Hagelstange 1961.

Brutaler Auslese-Wettbewerb

Und doch steht heute auch ein brutaler Auslese-Wettbewerb hinter dem „Flagschiff“. „Das ist ganz knallhart, diesen Aspekt sollte man nicht vernachlässigen“, sagt Wolfgang Maennig. Maennig gehörte dem Achter an, der vor 24 Jahren in Seoul zum vorerst letzten Mal Olympia-Gold gewann. Was den Kollektivgeist angeht, solle man die Sportart nicht überhöhen, sagt er: „Die, die draußen sind, gucken bis zuletzt, ob nicht vielleicht doch jemand krank wird oder schwächelt.“

Denn das ist der Traum aller Kaderathleten: Unter den letzten Acht zu sein. Zu Beginn eines Olympiajahres dürfen sich etwa noch 15 Athleten Hoffnung darauf machen. Maennig erinnert sich an die WM 1987 in Kopenhagen. „Da hat mich der Trainer Ralf Holtmeyer brutal rausgenommen“, sagt Maennig, „da bin ich ihm heute noch gram.“

Jener Ralf Holtmeyer ist auch derzeit wieder Trainer des Achters. Er hat eine ähnliche Erfolgsbilanz wie Karl Adam aufzuweisen. Und auch er weiß: „Wir versuchen uns immer zu verbessern. Das geht nicht immer mit Harmonie.“

Zwischen 1986 und 2000 war der 56-jährige zum ersten Mal Achter-Trainer, nach einem Intermezzo bei den Ruder-Frauen ist er 2009 zurückgekehrt. Unter ihm gewann der Männer-Achter zwischen 1986 und 2000 Gold, Silber und Bronze bei den olympischen Spielen. Eigentlich wäre nun also wieder Gold dran.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.