NSU-Prozess in München: Aussteiger zeigt Reue

Der Angeklagte Carsten S. entschuldigt sich. Derweil mehren sich Hinweise, dass die Behörden schon früh vom NSU wussten.

NSU-Prozess: Carsten S. und seine Anwälte. Bild: dpa

MÜNCHEN taz | Nach der Befragung durch die Anwälte der Nebenkläger sagte der Angeklagte Carsten S. mit stockender Stimme an die Adresse der Angehörigen der Opfer: „Ich kann nicht ermessen, was Ihnen für unglaubliches Leid angetan wurde.“ Eine Entschuldigung sei zu wenig, sagt er. „Das klingt für mich wie ein Sorry und dann ist es vorbei. Aber es ist noch lange nicht vorbei.“ Danach brachte er sein „tiefes Mitgefühl“ für die Angehörigen der Opfer zum Ausdruck.

Unterdessen steht derzeit eine andere Frage im Raum: Ab wann wussten Verfassungsschutz und Ermittler von der Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)? Sowohl der Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag in München als auch der NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG) lassen starke Zweifel an der bisherigen Darstellung der Behörden aufkommen.

Am Dienstag hatte ein Kriminalhauptkommissar aus Rosenheim, der Teil der Sonderkommission „Bosporus“ gewesen war, vor dem Ausschuss in München ausgesagt, er habe bereits 2006 bei einer Dienstbesprechung von dem Kürzel „NSU“ gehört. Dieser Hinweis sei aus der Führungsebene des sächsischen oder des Thüringer Verfassungsschutzes gekommen.

Schon 2003 von dem Kürzel NSU gehört

„Die Aussage ist nicht der ersten Hinweis, dass der Begriff NSU Ermittlern schon weit vor 2011 bekannt gewesen seien könnte“, sagte die innenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion in Thüringen, Martina Renner, der taz. In Baden-Württemberg hatte zuvor ein ehemaliger Beamter des Verfassungsschutzes behauptet, schon 2003 von einer rechtsextremen Gruppe mit diesem Kürzel gehört zu haben. Im Thüringer Untersuchungsausschuss will Martina Renner nun einen Beweisantrag zur Vernehmung des Beamten stellen, um mehr über die Kontakte des Landesamts für Verfassungsschutz und der Sonderkommission „Bosporus“ zu erfahren.

Bisher hatten die Behörden stets behauptet, die Abkürzung NSU sei erst nach dem Auffliegen der Terrorzelle im November 2011 bekannt geworden. Der Darstellung des Kriminalhauptkommissars aus Rosenheim hatte ein Kollege aus Nürnberg widersprochen. „Die Frage muss im Ungewissen bleiben“, sagte der bayrische Ausschussvorsitzende Franz Schindler (SPD). Das Gremium muss seine Arbeit wegen der Sommerpause bis Juli beenden. Ein neuer Untersuchungsausschuss nach der bayerischen Landtagswahl im September sei wahrscheinlich, so Schindler.

Auch Carsten S., der im NSU-Prozess schon den siebten Tag befragt wird, gab Hinweise darauf, dass der Verfassungsschutz schon früh von der Existenz des NSU hätte wissen können. So bestätigte er, dass der V-Mann Tino Brandt schon vor dem Jahr 2000 von seinen Kontakten zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gewusst habe. Die drei sollen 1998 im Untergrund den NSU gegründet haben. Carsten S. hatte dem Trio die Waffe besorgt, mit dem die drei Attentäter neun Menschen erschossen haben sollen.

Tino Brandt arbeitete von 1994 bis 1998 unter dem Decknamen „Otto“ für den Verfassungsschutz in Thüringen. Er soll 200.000 Mark erhalten haben, die er in den Aufbau rechtsextremer Strukturen genutzt haben will. Seine Nähe zu den drei Gesuchten war dem Thüringer Verfassungsschutz bekannt. Ob Brandt der Behörde sein Wissen preisgab, ist bislang aber nicht bekannt.

Carsten S. gesteht Verantwortung für Morde ein

In München hat der Angeklagte Carsten S. derweil seiner Verantwortung für die Morde der Neonazi-Terroristen eingestanden. „Ich fühle auf jeden Fall eine Verantwortung, wie ich mich damals schuldig gemacht habe, die Waffe zu übergeben.“

In Sachsen musste der Verfassungsschutz am Mittwoch einräumen, beim Sichten von Akten auf neue Ordner zum NSU-Komplex gestoßen zu sein: In den Akten zu „Blood & Honour“ und dem „Ku-Klux-Klan“ soll es brisante Unterlagen zu Absprachen von Polizei, Zielfahnder und Verfassungsschutz geben. Kerstin Köditz, Obfrau der Linksfraktion im sächsischen NSU-Untersuchungsausschuss, sagt: „Wenn ein Skandal den nächsten jagt, ist man beim Verfassungsschutz Sachsen.“

In Kooperation mit Radio Lora München, www.lora924.de

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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