Kirchen und der Konflikt in der Ukraine: Eine zerklüftete Landschaft

Für Moskau liegt die Wiege der russischen Orthodoxie in Kiew. Doch immer mehr Ukrainer versuchen, sich diesem Anspruch zu entziehen.

Die Kuppeln einer Klosterkirche in Nikolskoje. Bild: reuters

BERLIN taz | Am 18. Juli 1995 kam es im Zentrum von Kiew zu einer denkwürdigen Schlägerei zwischen orthodoxen Christen. Vier Tage zuvor war Patriarch Wolodimir gestorben, das Oberhaupt der jungen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Kiewer Patriarchat. Der Leichenzug bewegte sich zur bedeutendsten aller Kiewer Kirchen, der Sophienkathedrale. Dort sollte der Patriarch die letzte Ruhe finden – und genau das wollten Hunderte Anhänger der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat verhindern, die die Trauergemeinde am Tor erwarteten.

Der Grund: Nicht nur die Anhänger des Kiewer Patriarchats, sondern auch die dem russischen Patriarchen unterstellten Orthodoxen in der Ukraine erheben Anspruch auf die Kathedrale. Die befindet sich eigentlich in Staatsbesitz und ist seit Langem ein Museum. Um Neutralität zu wahren, hatten die Kiewer Behörden die Beerdigung verboten. Daher fand die Massenschlägerei zwischen Ukrainisch-Orthodoxen, Moskautreuen und der Polizei vor dem Gotteshaus statt.

Die Bilanz: über 50 Verletzte – und ein hochmerkwürdiges Denkmal. Nachdem die Anhänger Wolodimirs am Betreten der Sophienkathedrale gehindert worden waren, begannen sie in heiligem Zorn, den Gehweg vor dem Haupteingang aufzureißen und ein Grab auszuheben. Dahinein wurde der Sarg Wolodimirs gesenkt.

Die Tätlichkeiten markierten den Tiefpunkt der Beziehungen zwischen den zwei größten Kirchen in der Ukraine. Das Grab, inzwischen kein Provisorium, sondern in Marmor gefasst, erinnert bis heute jeden Passanten an das kirchliche Zerwürfnis in der Ukraine – ein Land, dessen religiöse Karte einem Flickenteppich gleicht. Und das birgt erhebliches Konfliktpotenzial.

Die Moskautreuen: die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat (6,5 Mio. Gläubige)

Die Nationalen: die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Kiewer Patriarchat, (4,2 Mio.) sowie die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (250.000)

Die Westlichen: die griechisch-katholische Kirche (2,1 Mio. bis 4,3 Mio.).

Die Gläubigen: Ihre Zahl ist nicht gesichert, denn Orthodoxe führen keine Mitgliederkarteien. Die oben genannten Zahlen stammen aus demoskopischen Erhebungen von 2010. Diese Angaben und die der Kirchen differieren teilweise erheblich.

Die Ungläubigen: Knapp zwei Drittel der 45 Mio. Ukrainer haben keine Religion.

Zwischen Lemberg und Donezk gibt es vier konkurrierende Kirchen. Die Frontlinien zwischen ihnen reichen tief in die Politik hinein. So stand an der Spitze von Wolodimirs Leichenzug auch Leonid Krawtschuk. Der Expräsident, der ein Jahr zuvor abgewählt worden war, hatte sich des Kiewer Patriarchats eifrig angenommen, nachdem es sich 1992 von Moskau gelöst hatte. Allerdings folgte nur ein Teil des Klerus der Abspaltung – ein großer Teil der Orthodoxen in der Ukraine hält bis heute zum russischen Patriarchen.

Es geht nicht um Religion

Bei dem Konflikt geht es nicht nur um Religion, sondern um sehr irdische Dinge wie Geld, Besitz – und politischen Einfluss. Seit Krawtschuk hat jeder ukrainische Präsident seine kirchenpolitische Präferenz, jeder neue Amtsinhaber vollzog eine Neuausrichtung. Leonid Kutschma wandte sich von Krawtschuks Kiewer Patriarchat ab und dem Moskauer zu. Wiktor Juschtschenko, der Sieger der „Orangenen Revolution“, bekannte sich wieder zu Kiew. Und Wiktor Janukowitsch ließ sich 2010 am Tage seiner Amtseinführung vom extra herbeigeeilten Moskauer Patriarchen im Kiewer Höhlenkloster den Segen erteilen.

Aus der Reihe fällt einzig Aleksandr Turtschinow: Der heutige Übergangspräsident ist Laienprediger der Baptisten, einer evangelischen Glaubensrichtung. In der Ablehnung des 50-Jährigen dürften sich Moskau und Kiew einig sein. Denn sosehr beide um die Führung in der Ukraine ringen, so ähnlich sind sie sich in der Verdammung anderer Konfessionen.

So zerklüftet, wie sich die kirchliche Landschaft in der Ukraine heute darstellt, so homogen war sie über Jahrhunderte. Im Jahr 988 ließ Großfürst Wladimir, kurz zuvor selbst in Chersones – dem heutigem Sewastopol – getauft, die Bevölkerung den neuen Glauben annehmen. Seitdem gilt die Stadt als Wiege der russisch-orthodoxen Kirche. Damit begründet Russland bis heute seine Einflussnahme auf die Ukraine. Doch dort gibt es schon lange Tendenzen, sich diesem zu entziehen.

Ende des 16. Jahrhunderts schlug die Westukraine eine andere Richtung ein. Das katholische Polen, zu dem Galizien und Wolhynien damals gehörten, war daran interessiert, seine orthodoxen ukrainischen Untertanen stärker an sich zu binden. 1594 unterzeichneten sechs bis dahin russisch-orthodoxe Bischöfe einen „Unionsvertrag“ mit dem Papst. Die „griechisch-katholische“, mit Rom vereinte, „unierte“ Kirche war geboren.

In den Regionen, die wenig später wieder unter die Zarenkrone gerieten, wurde sie zwar sofort verboten – doch in Ostgalizien, das zu Habsburg kam, behaupteten sich die Unierten nicht nur, sondern versuchten zudem, sich im Zuge der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert als Nationalkirche zu positionieren.

Während des Zweiten Weltkrieges verbanden sich die griechisch-katholischen Christen mit nationalistischen Organisationen. Daher wurde die Kirche 1946 von sowjetischen Behörden aufgelöst. Viele Priester wanderten aus, sehr viele wurden inhaftiert. Erst unter Michail Gorbatschow wurde die Kirche wieder legalisiert.

Unierte für Europa

Für „echte“ Orthodoxe gelten die Unierten immer als verlängerter Arm des Vatikans. Doch vor allem in der Westukraine erlebte sie nach 1990 einen starken Zulauf. Heute ist die griechisch-katholische Kirche mehr als jede andere in der Ukraine „pro-europäisch“ eingestellt. Bis zu 4,3 Millionen Gläubige sollen sich zu ihr bekennen. Ihr bekanntester Vertreter ist Premier Jazeniuk.

Nicht nur die Unierten wollten Nationalkirche werden – auch die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche bemühte sich darum. Schon im Zarenreich forderten viele Ukrainer eine unabhängige orthodoxe Kirche mit eigenem Oberhaupt. Bis zur Oktoberrevolution blieb das ein Traum – aber 1917 machten sich die „Autokephalen“ die von den Bolschewiki propagierte Trennung von Staat und Kirche zunutze und ließen sich registrieren. Im September 1921 wurde erstmals ein Oberhaupt geweiht. Doch die neue Freiheit währte nicht lange: Nach Stalin’schem Terror und Zweitem Weltkrieg wanderte die autokephale Hierarchie in die USA und nach Kanada aus. Einer Wiederbelebung ihrer Kirche im Ursprungsland wurde erst um 1990 möglich.

Ob Kiewer Patriarchat, griechisch-katholisch oder autokephal: Russland hat diese Kirchen – nach seiner Lesart nur Häresien – nie akzeptiert. Wie in einer Kolonie hat Moskau in der Ukraine immer wieder eigene religiöse Landmarken gesetzt – seien es Klöster, Kirchen oder Denkmäler. Eine der jüngsten stammt von 2005, als ein patriotischer russischer Verein dem Slawenapostel Andreas in Sewastopol ein Denkmal errichtete – unweit der Ruinen von Chersones, wo Großfürst Wladimir 988 die Taufe empfangen hatte.

Ein Pendant hatte der Verein zuvor im Fernen Osten auf den Kurilen geweiht, einer Inselgruppe im Pazifik, die von Japan beansprucht wird. Beide Denkmäler zusammen gelten als „Symbol der Einheit der russisch-orthodoxen Traditionen“, wie einer der Denkmalsaktivisten betonte. Sie sind die vorläufigen Grenzpfosten eines russisch-orthodoxen Reiches vom Pazifik bis zur Krim.

Bannfluch aus Moskau

Dieser Hegemonie haben sich ukrainische Kleriker und Laien immer wieder entzogen – und entziehen sich weiter. Die spektakulärste Abkehr vollzog 1992 der Kiewer Metropolit Filaret, bis dahin Moskaus Statthalter in der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat. Der Gottesmann schloss sich den Autokephalen an. Selbstverständlich wurde er von Moskau sofort mit einem Bannfluch belegt. Doch dann kam ans Licht, dass Filaret zu Sowjetzeiten mit dem KGB zusammengearbeitet hatte – und auch die Autokephalen verstießen ihn. Was tun? Mit Getreuen gründete Filaret eine neue Kirche – die schon genannte Ukrainisch-Orthodoxe Kirche/Kiewer Patriarchat. Seit jenem spektakulären Leichenzug ist der 85-Jährige deren Patriarch. Heute soll er bis zu 7 Millionen Gläubigen vorstehen.

Filarets Position ist gefestigt. Erstmals seit Jahren haben sogar die Moskautreuen Gespräche über eine Annäherung mit ihm begonnen. Denn mit Annexion der Krim wächst in den Reihen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche/Moskauer Patriarchat das Unbehagen gegenüber Moskau. Ein ranghoher Bischof sprach sich auf dem Höhepunkt der Krise für die „territoriale Integrität der Ukraine“ aus. Immer mehr ukrainische Priester sollen als Zeichen des Protests in ihren Gebeten Patriarch Kyrill, ihr Kirchenoberhaupt, nicht mehr erwähnen. Und Metropolit Sofroni Dmitruk aus Tscherkassy, der schon lange für eine Unabhängigkeit von Moskau eintritt, nennt Wladimir Putin ohne Umschweife einen „Banditen“.

Moskaus Autorität schwindet in den ukrainischen Kirchen. Doch von einem Religionsfrieden ist das Land zwischen Bug und Nördlichem Donez noch weit entfernt.

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