Dachbesetzung in Berlin: Polizei will Flüchtlinge aushungern

Bis zu zehn Oranienplatz-Flüchtlinge harren auf dem Dach eines Hostels aus, um gegen die Einstellung aller Leistungen zu protestieren.

Unter Einsatz des Lebens: Einer von bis zu zehn Männern, die sich auf ein Dach geflüchtet haben, weil sie Berlin verlassen sollen. Bild: dpa

BERLIN taz | Die Telefonverbindung ist schlecht, der Wind rauscht in der Leitung. Dann ist Sanis Stimme wieder deutlich zu hören. „Wir wollen mit Frau Kolat reden, sie ist verantwortlich für unsere Tragödie. Wenn die Polizei hochkommt, springen wir alle“, sagt er. Eine Person im roten Sweatshirt und weißer Hose winkt vom Dach des Hostels in der Friedrichshainer Gürtelstraße herüber. Sie balanciert auf dem First, was von unten ziemlich waghalsig aussieht. „Das ist Sani“, erklärt Ali, der gegenüber der Polizeiabsperrung auf der Scharnweberstraße steht und den Telefonkontakt hergestellt hat. „Wenn ich ins Haus hineinkönnte, wäre ich auch auf dem Dach“, sagt der junge Mann aus Mali.

Seit Dienstagmittag harren bis zu zehn Männer auf dem Dach des Friedrichshainer Hostels aus. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Sani will es nicht sagen, Polizeisprecher Stefan Redlich spricht von acht bis zehn Personen. Die Männer, laut Ali sind sie alle aus Niger, weigern sich, das Hostel zu verlassen, in dem sie seit der Räumung des Oranienplatzes im April leben. Die Polizei hat die Straße abgeriegelt, nur Anwohner dürfen durch. Ob es Gespräche zwischen Besetzern und Behörden gibt, ist fraglich. Sani auf dem Dach sagt: „Niemand redet mit uns.“ Redlich dagegen sagt, es habe am Dienstag Gespräche gegeben. Die wolle man fortsetzen.

Die Grünen-Abgeordnete Canan Bayram bezweifelt das. „Das ist eine Strategie des Friss oder stirb“, glaubt sie. Bayram steht mit den Journalisten an der Absperrung, die Einsatzleitung verbietet ihr, die beim letzten Konflikt um die Gerhart-Hauptmann-Schule als Vermittlerin gefragt war, den Zugang zum Hostel. Am Dienstag sei sie noch im Haus gewesen, das voller Zivilbeamter sei, erzählt Bayram. Verhandlungen habe sie keine beobachtet. Auch Essen und Trinken darf niemand den Besetzern bringen. Immerhin, sagt Sani, hätten sie Zugang zu Wasser und Nahrungsmittel für etwa zwei Tage.

Am Montagmorgen hatte die Heimleitung 64 von 104 Bewohnern des Hostels eröffnet, dass sie bis bis zum folgenden Tag gehen müssten. Insgesamt stellt das Land Berlin für 108 Oranienplatz-Flüchtlinge seine so genannten „freiwilligen Leistungen“ ein. Dagegen haben 18 Männer am Dienstag Klage beim Sozialgericht eingereicht. Laut Gericht wurden davon einige zurückgenommen, andere seien noch anhängig. Nach Vorstellung der Behörden sollen die Männer in die asylrechtlich für sie zuständigen Bundesländer zurückgehen – beziehungsweise nach Italien, wenn sie von dort gekommen sind.

Für viele Betroffene ist das keine Lösung. Sie wissen nicht, wohin. So wie Ali, der am Dienstagabend nicht mehr ins Hostel hineingelassen wurde. „Darum bleibe ich hier“, sagt er – auf der Straße zusammen mit drei, vier Leidensgenossen und ihren Unterstützern. Am frühen Mittwochnachmittag sitzen etwa zwei Dutzend Menschen auf dem Bürgersteig vor der Absperrung und an der Hauswand gegenüber. Einige von ihnen haben die Nacht hier verbracht, die Demo am Dienstagabend mit rund 500 Teilnehmern soll „gut“ gewesen sein. Jetzt wird beratschlagt, was zu tun ist. „Es wäre wichtig, dass mehr Leute hier wären“, findet eine junge Frau. Eine Anwohnerin bringt Brötchen und selbstgemachten Aufstrich: „Mit lieben Grüßen aus der Scharni 38.“

In den anderen drei Heimen, aus denen Oranienplatz-Flüchtlinge am Dienstag ebenfalls ausziehen mussten, gibt es nach Auskunft einer Sprecherin der Sozialverwaltung keinen Widerstand. Eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa, am Mittwochmorgen hätten sich in der Unterkunft Haarlemer Straße in Neukölln etwa 20 Männer geweigert zu gehen, bezeichnet die Sprecherin als Falschmeldung. Ein Flüchtling bestätigt jedoch am Mittwochmittag der taz, dass die Polizei in dem Gebäude massiv präsent sei – was nicht für einen friedlichen Auszug aller Flüchtlinge spricht.

Auch am Oranienplatz ist die Polizei am Mittwochnachmittag mit mehreren Mannschaftswagen im Einsatz – wie schon in den letzten Tagen, um eine erneute Besetzung des Platzes zu verhindern. Zudem ist für 15 Uhr eine Demonstration angemeldet, die allerdings nicht stattfindet. Dennoch sind mehrere Dutzend Flüchtlinge auf dem Platz versammelt, als nach Berichten mehrerer Augenzeugen Polizeibeamte in Zivil durch die Menge gehen und mehrere Personen festnehmen. Die Polizei bestätigt acht Festnahmen wegen „schweren Landfriedensbruchs“.

Unterdessen sind sich die Mittagstrinker in der Eckkneipe "Zum Igel" vis à vis des Friedrichshainer Hostels weitgehend einig, wie die verfahrene Situation mit den Dachbesetzern zu lösen ist. "Solln'se doch springen", erklärt ein Schnauzbart zwischen zwei Schlucken Schultheiss. "Aber die Polizei macht ja nix, das geht jetzt noch Tage so", bedauert ein ältlicher Glatzkopf und lugt aus der Tür in Richtung Hostel. Der Wirt meint sogar zu wissen, warum die Männer auf dem Dach keinesfalls Berlin verlassen wollen. "Das sind alles Drogendealer."

Bei Twitter kursieren derweil Meldungen, wonach aus ebenjener Kneipe heraus die Kabel der Lautsprecheranlage der Flüchtlingsunterstützer am Dienstagabend zerschnitten worden seien.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.