Staatenlos in den USA, taz-Serie Teil III: Leben im undefinierten Nichts

Im Einwanderungsgesetz der USA gibt es keine Staatenlosigkeit. Die rund 4.000 Staatenlosen im Land sitzen fest – wie Mikhail Sebastian.

Jeden Moment kann die Polizei vor der Tür stehen: Mikhail Sebastian arbeitet schwarz in einem Coffee Shop. Bild: Shaminder Dulai

LOS ANGELES taz | Mikhail Sebastian atmet einmal tief durch, bevor er in seinem kleinen Apartment seine Geschichte zu erzählen beginnt. „Was bloß als Urlaub gedacht war, wurde ein verlorenes Jahr meines Lebens.“ Er holt erneut Luft, runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. „Ständig habe ich Angst, dass ich eines Tages wieder in dieser Situation bin.“ Wenn er nachts manchmal nicht schlafen kann, kommen die alten Gefühle wieder hoch, sagt er. Die Furcht. Die Isolation. Die Hilflosigkeit.

Es passiert außerdem jedes Mal, wenn Sebastian erklären muss, wie es kam, dass er wegen einer Eigenheit der US-Einwanderungsgesetze auf einer winzigen Insel im Südpazifik festsaß. „Ich erzähle meine Geschichte, weil ich nicht will, dass dies irgendjemand anderem zustößt“, sagt Sebastian. „Wir brauchen eine Lösung dieses Problems.“

Weil Sebastians Geschichte einen kleinen politischen Feuersturm in den USA entfacht hat, ist er vermutlich die bekannteste Persönlichkeit in der kleinen Gemeinschaft der Staatenlosen in den USA – Menschen ohne Staatszugehörigkeit gleich welcher Art. Menschenrechtsaktivisten schätzen, dass sich etwa 4.000 Staatenlose im Land aufhalten. Aber da die Vereinigten Staaten das Konzept der Staatenlosigkeit im US-Einwanderungsrecht nicht anerkennen, geraten viele der Betroffenen in eine seltsame und menschenunwürdige rechtliche Grauzone.

Solange ihnen die Bundesregierung keinen Asyl- oder Flüchtlingsstatus zuerkennt, sitzen die Staatenlosen im Land fest. Sie können keine Reisedokumente beantragen, um die USA zu verlassen – selbst wenn sie das wollten; andererseits gibt es keine Regularien, um ihnen einen legalen Status zu verleihen. Oft werden sie wiederholt inhaftiert, wenn die Bundesbehörden versuchen, sie abzuschieben und damit scheitern.

„Es ist schrecklich“

„Es gibt viele Menschen wie Mikhail, die festsitzen, obwohl sie nichts Falsches getan haben“, erklärt Lindsay Jenkins, Schutzbeauftragter im Büro des UN-Flüchtlingskommissariats in Washington, DC. „Es ist schrecklich, aber wir können wenig daran ändern.“

Sebastians Geschichte ist typisch für die seltsame Welt der Staatenlosen in den USA. Geboren als ethnischer Armenier in der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan, kam er 1995 nach Houston in Texas mit einem noch gültigen sowjetischen Pass als Assistent eines Geschäftsmannes. Weil er aufgrund seiner Homosexualität in der Heimat Repressalien fürchtete, entschied er sich, in den Vereinigten Staaten zu bleiben und Asyl zu beantragen. Sein Antrag wurde von den Einwanderungsbehörden abgelehnt.

Mehr als 10 Millionen Menschen weltweit werden Schätzungen zufolge von keinem Land als Staatsbürger anerkannt, mindestens 600.000 in Europa und den USA. Sie sind staatenlos. Jeder Fall ist kompliziert, jeder Fall ist anders. Die taz stellte drei von ihnen vor und schaute auf drei Länder: Said in Deutschland, Maria in Polen und Mikhail Sebastian in den USA.

Die taz-Serie ist ein Ergebnis des transatlantischen Rechercheprojekts „Stateless Voice“. Es wird gefördert durch den Fund for Investigative Journalism, das Arthur F. Burns Fellowship des International Center for Journalists und die International Journalists Programmes (IJP) sowie das Vocer Media Lab.

Asylantrag „nicht überzeugend“

„Sie sagten, meine Angst vor Verfolgung sei nicht überzeugend genug“, erinnert sich Mikhail Sebastian. Doch es gab keinen Weg zurück nach Aserbaidschan. Sein sowjetischer Pass war abgelaufen, und als Sebastian in der aserbaidschanischen Botschaft vorstellig wurde, wies man ihn ohne Angabe von Gründen zurück. Sebastian glaubt, dass es daran lag, dass er Armenier ist. Die armenische Botschaft wies ihn ebenso ab wie die russische. Die US-Behörden verhafteten ihn und versuchten, ihn abzuschieben. Als ihnen klar wurde, dass ihn kein Land aufnehmen würde, ließen sie ihn frei. Sebastian war staatenlos.

Wie viele Staatenlose in seiner Situation bekam Mikhail Sebastian eine Arbeitserlaubnis, außerdem sollte er sich regelmäßig bei der Einwanderungsbehörde melden. Das machte er brav all die Jahre, die er im Reisebüro und als Barista in einem Coffee Shop in Los Angeles arbeitete. Bis er 2011 auf die Idee kam, Urlaub im tropischen Inselparadies von Amerikanisch-Samoa zu machen. Hier nahm seine Geschichte eine völlig bizarre Wendung.

„Die Erinnerung daran macht mich echt traurig“, sagt Sebastian. „Wenn ich nur daran denke, bekomme ich Albträume.“ Sebastian machte Urlaub auf der 50.000-Einwohner-Insel, lag am Strand, unternahm Abstecher in den tropischen Dschungel und stattete sogar dem benachbarten unabhängigen Samoa einen Kurzbesuch ab – obwohl er keinen gültigen Ausweis besaß. Doch als er am lokalen Flughafen seinen Rückflug mit den Haiwaiian Airlines nach Los Angeles antreten wollte, hielten ihn die Behörden fest.

Job und Wohnung gehen flöten

„Sie haben sich selbst abgeschoben“, teilte man ihm mit, erinnert sich Sebastian. Aufgrund der besonderen Beziehung von Amerikanisch-Samoa zu den USA – es besitzt eigene Einwanderungsgesetze – teilte man ihm mit, dass er nun dort festsäße.

Im Lauf der nächsten Monate versuchten die lokalen Behörden herauszubekommen, was sie mit ihm machen sollten. Weil er keine örtliche Arbeitserlaubnis besaß, fand er keinen Job. Und weil er keinen Job hatte, ging ihm das Geld aus und er konnte er sich kein Hotel mehr leisten. Die Behörden brachten ihn bei einer einheimischen Familie unter und zahlten ihm ein Taschengeld von 50 Dollar pro Woche. Sebastian verlor seinen Barista-Job in Los Angeles, sein Vermieter kündigte ihm die Wohnung.

Die amerikanisch-samoanische Parlamentsdelegation schaltete sich ein, schrieb wütende Briefe an das US-amerikanische Ministerium für Innere Sicherheit und verlangte, dass man Sebastian nach Los Angeles zurücklässt. Die offiziellen Stellen rührten sich nicht. Dann nahmen sich das UN-Flüchtlingskommissariat und einer der versiertesten Anwälte für Staatenlose in den USA Sebastians Falls an.

Inselkoller

Doch die Behörden rührten sich nicht. Es sah fast so aus, als säße Sebastian für immer in Amerikanisch-Samoa fest, er fing an zu verzweifeln. Die meisten Tage saß er im örtlichen McDonald’s und schrieb Bittbriefe an Regierungsstellen. In der Regel erhielt er keine Antwort.

„Ich habe jeden Tag über Selbstmord nachgedacht“, erzählte Sebastian einem Reporter 2012. Die tropische Hitze habe ihn krank gemacht. „Ich will bloß zu meinen Freunden, in meine vertraute Umgebung zurück. Ich will wieder ein Leben haben.“

Sebastian erinnert sich daran, wie sehr ihn die Vorstellung erschreckt hat, nie wieder von der kleinen Insel wegzukommen. „Ich hätte ja auch in den USA feststecken können, aber da hätte ich wenigstens herumreisen dürfen“, meint er. „Stellen Sie sich vor, auf so einer Insel ausgesetzt zu sein. Das Paradies wird zur Hölle, weil es zu einer Art Gefängnis geworden ist.“

Proteste und Ausnahmeregelung

Nach Monaten der Öffentlichkeitsarbeit und wütender Proteste amerikanischer Menschenrechtsaktivisten erlaubte das Ministerium für Innere Sicherheit Sebastian, im Februar 2013 schließlich in die USA zurückzukehren – aufgrund einer „humanitären“ Ausnahmeregelung.

Aber es war schwierig für ihn, sich wieder einzuleben. Er durfte zwar einen neuen Asylantrag stellen, zugleich verweigerten ihm die Behörden eine Arbeitserlaubnis. Deswegen arbeitet er schwarz.

An vielen Tagen trifft man ihn in einem Coffee Shop im Großraum Los Angeles an. Der Eigentümer hatte Mitleid mit ihm und lässt ihn dort arbeiten. Sebastian selbst durchlief Phasen von Frustration über seine Situation hin zu Traurigkeit und Wut. Er sitzt zwar nicht mehr auf einer stickigen Insel fest, aber in den Vereinigten Staaten, die er nicht verlassen kann. Sebastian will anderen Staatenlosen helfen und ist selbst zum Aktivisten geworden. Er wünscht sich ein legales Aufenthaltsrecht und irgendwann mal die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Andernfalls möchte er in ein anderes Land gehen, irgendwohin, wo man ihn akzeptiert, wo man ihm sagt, dass er dort hingehört.

„Ich wünsche niemandem, dass ihm dies geschieht“, sagt er. „Aber es wird so kommen, wenn ich nichts unternehme.“

Blockade im Kongress

Im letzten Jahr fing er an, über seine Situation zu schreiben, es wurde sogar in der Washington Post veröffentlicht. Aber Sebastians Situation hat sich nicht geändert. Er bleibt ein Mann ohne Land – und ein Mann ohne Möglichkeit, das Land zu verlassen.

US-amerikanische Menschenrechtsaktivisten sehen nur eine Möglichkeit, Sebastians Situation zu verbessern: die Gesetze dahingehend zu ändern, dass die Bestimmungen der US-amerikanischen Einwanderungsbehörden Staatenlose anerkennen und ihnen den Weg zu einem legalen Status ebnen – oder sie zumindest mit einem Reisedokument ausstatten, damit sie die USA verlassen können.

Aber zusammen mit einer umfassenderen Reform des Einwanderungsrechts wurden Gesetze, die die Situation der Staatenlosen hätten erleichtern können, wiederholt im Kongress blockiert. Statt weltweit die Staatenlosigkeit zu bekämpfen, weigerten sich die USA, verschiedene internationale Schlüsselabkommen gegen Staatenlosigkeit zu unterzeichnen. So lässt die Regierung das Problem Staatenlosigkeit im eigenen Land schwelen.

„Ich bleibe hoffnungsvoll“, sagt David Baluarte, Sebastians Anwalt. „Mehr kann man nicht machen – hoffen. Wir müssen weiterhin dafür kämpfen. Wir müssen daran glauben, dass es eines Tages passiert.“

Täglicher Anruf, ständige Angst

Für Sebastian kann die Veränderung nicht schnell genug passieren. Er werde niemals aufhören, für sich und das Recht der Staatenlosen zu kämpfen. Auf dem Weg zur Arbeit schaut er sich immer nach der Ausländerpolizei um. Obwohl er – technisch gesehen – kein illegaler Einwanderer ist, weiß er auch, dass er sich nicht legal in den USA aufhält. Er befindet sich in einer Grauzone des Rechts, einem undefinierten Nichts. Jederzeit kann die Ausländerbehörde an seiner Arbeitsstelle auftauchen und ihn wieder in Abschiebehaft stecken.

Täglich ruft Sebastian nach der Arbeit bei der Einwanderungsbehörde an, um den Stand seines Asylantrags zu erfragen. Wie sein eigenes Leben ist sein Fall in der Schwebe. Er ruft jeden Tag an, aber es gibt nie etwas Neues.

„Versuchen Sie es morgen wieder“, sagt ihm der Beamte am Telefon. „Vielleicht hat sich bis dahin etwas getan.“

Übersetzung: Sabine Seifert

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