Bilanz des Fußballjahres: Horst Heldt, der Precht-Adorno

Die Liga der Kicker und Denker, der Dichter und Schlenzer beweist: Hauptsache, die Null steht. Eine ideengeschichtliche Bilanz.

Aufhebung der Dialektik von Nähe und Distanz: Jens Lehmann und Thomas Hitzlsperger versichern sich gegenseitig ihre Existenz Bild: iamgo/Avanti

Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Und wenn man Revue passieren lässt, was uns der Fußball in den zurückliegenden zwölf Monaten an Entertainment geboten hat, kommt man nicht umhin, festzustellen, dass einigen Vertretern der kickenden Zunft die Unterhaltung mit dem Ball besser gelungen ist, als die mit dem Mund. Wir alle kennen den Satz: „Si tacuisses, philosophus mansisses“. Auf Deutsch: „Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben.“ Worauf manche Zeitgenossen aus der Fußballbranche allerdings erwidern würden: „Woher soll ich wissen, ob ich ein Philosoph bin, wenn ich nicht höre, was ich rede?“

Acht: Lehmann als Hegel

Den Anfang der besten Fußballphilosophen 2014 macht darum folgerichtig Jens Lehmann. Seit Georg Friedrich Wilhelm Hegel ist es niemandem mehr so exorbitant wie dem ehemaligen Nationaltorhüter gelungen, die Wirkmächtigkeit von Sprache vorzuführen, als er Thomas Hitzlspergers Coming-out als Homosexueller mit der Bemerkung kommentierte, dass er einen schwulen Mitspieler komisch gefunden hätte, denn „man duscht jeden Tag zusammen, und man hat Phasen, in denen es nicht so läuft“. Dass er mit den „Phasen, in denen es nicht so läuft“, das „zusammen duschen“ gemeint haben dürfte, ist nicht nur unstrittig, sondern auch Lehmanns Outing als jemand, der nicht ganz sauber ist. Wie sagte schon Georg Büchners Woyzeck: „Jeder Mensch ist ein Abgrund.“ Erst seit Jens Lehmann wissen wir, was damit gemeint ist.

Sieben: Keller als Sloterdijk

Kommen wir als nächstes zu Platz sieben. Und der gebührt Ex-Schalke-Trainer Jens Keller mit seinem direkt der sokratischen Schule entlehnten Aphorismus: „Da mach ich mir vom Kopf her keine Gedanken.“ Hier findet sich sowohl der Dualismus in seiner paradoxen Komplexität wieder, als auch der Verweis ins Nihilistische. Mach dir vom Kopf her keine Gedanken dürfte darum auch der Titel von Peter Sloterdijks nächstem Buch sein.

Sechs: Lorenz als Konfuzius

Auf Platz sechs steht DFB-Sportrichter Hans E. Lorenz, der Stefan Kießling zu dessen Phantomtor gegen Hoffenheim befragen wollte und den bei der Nationalmannschaft außen vor gelassenen Leverkusener mit den Worten begrüßte: „Na, jetzt haben Sie ja endlich mal eine Einladung vom DFB bekommen.“ Wir wissen bis heute nicht, mit welchen fernöstlichen Tai-Chi-Gong-Aum-Methoden Stefan Kießling sich blitzschnell in den meditativen Alphazustand versetzt hat. Fest steht nur, dass Hans E. Lorenz anschließend weder zum Kieferchirurgen musste, noch mit dunkler Sonnenbrille herumlief, um seine geschwollenen Augen zu verbergen.

Fünf: Der Kaiser als Marx

Auf Platz fünf sehen wir unseren Teilzeitbuddhisten und Konfuzius-Fan Franz Beckenbauer mit seinem Aperçu: „Ich hab noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen.“ Und wenn wir ehrlich sind, spricht er doch damit nur stellvertretend für uns alle das aus, was wir jederzeit bestätigen müssen, nämlich noch nie einen einzigen Sklaven in Katar gesehen zu haben. Gut, das könnte natürlich auch damit zusammenhängen, dass die allermeisten von uns noch nie in Katar gewesen sind. Aber ist es nicht genau das, was uns die kaiserliche Lichtgestalt damit sagen will? Man muss da sein, um im Dasein da zu sein. Und wenn man nicht da ist, obwohl man da ist, dann sieht man eben auch keinen Sklaven in Katar. Vom Konfuzianer zu Konfusionisten in nur einem Satz. Das ist der Beweis: Das Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein. Marx kann einpacken.

Vier: Sandrock als Nietzsche

Keine Sklaven sah auch Helmut Sandrock, Generalsekretär des DFB, der locker Platz vier errang. Kannte Friedrich Nietzsche noch „Menschliches, Allzumenschliches“ und schrieb darin: „Der Weise wird unwillkürlich mit den anderen Menschen leutselig umgehen“, so hat Sandrock diese Definition präzisiert und um einen Aspekt erweitert, als er nach der Ankunft des DFB-Trosses im WM-Gastgeberland Brasilien bemerkte: „Wir sind freundlich begrüßt worden von Menschen, Frauen und Kindern.“

Drei: Heldt als Precht-Adorno

Auf Platz drei steht Horst Heldt, der David Precht aus Gelsenkirchen. Nachdem Eric Maxim Choupo-Moting den Elfmeter gegen Eintracht Frankfurt mit souveräner Lässigkeit in die Mitte schlenzte, verkündete der Schalker Manager: „Da ist einfach seine afrikanische Mentalität durchgekommen, und die verleiht Eric einen speziellen Touch. Man kann sagen, er ist positiv verrückt.“ Damit hat Horst Heldt nachgewiesen, dass er den Ethnologie-Master an der Gloria-von-Thurn-und-Taxis-Schnacksel-Universität bestanden hat. Eine Milliarde Menschen einer gemeinsamen Mentalität zuordnen zu können, das ist das dialektische Differenzierungsvermögen, von dem Adorno gesprochen hatte. Vielleicht ist Heldt auch nur negativ verrückt.

Zwei: Hoeneß als Aristoteles

Kommen wir jetzt zum zweiten Platz, und damit zum Gewinner der flachen Pfeife am Bande. Uli Hoeneß hat eine Woche vor seiner Einlieferung in die Besserungsanstalt Landsberg am Lech eine Rede gehalten und darin den Satz gesagt: „Plötzlich war ich ein Arschloch, ein Schwein, ein Mann, der den Leuten Geld vorenthält.“ Hier artikuliert sich also endlich mal jene Katharsis, nach der Aristoteles sich immer sehnte. Da sage noch mal einer, Gefängnisstrafen lösten keine Selbsterkenntnis aus.

Ehrenpreis: Imperator-Gauck als Imperativ-Kant

Den Ehrenpreis, quasi außer Konkurrenz, erhält Bundespräsident Joachim Gauck. Nach dem 1:0-WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Argentinien salbaderte der Militärpfarrer aus dem Schloss Bellevue ins ARD-Mikrofon: „Ich habe so gezittert und gebebt, und hab’ gedacht: Wo ist die Mannschaft, die Brasilien zu Hause 7:1 niedergemacht hat?“ Darin offenbart sich nicht nur der Fußballfachmann, der weiß, dass Kantersiege das Normalste der Welt sind, hier packt auch ein Diplomat ein pazifistisches Vokabular aus, das Kants kategorischen Imperativ in den Schatten stellt. Und zwar in jenen Schatten, den C. G. Jung Gauck attestieren würde.

Eins: Mertesacker als Mertesacker

Bleibt Platz eins. Den hat mit weitem Abstand Per Mertesacker während der WM in Brasilien erobert, als er mit seinem Bonmot: „Wat woll’n Se denn eigentlich?“ endlich die Weltformel entdeckte. So spricht der wahre Philosoph. Der Rest ist Schweigen.

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