Ausnahmezustand in Brüssel: Ich habe also doch Angst

Seit ein paar Wochen wohnt unsere Autorin in Brüssel, nicht weit entfernt von Molenbeek. Dort war sie auf Partys. Jetzt ist vieles anders.

Frau hält Plakat hoch mit einer Stadtsilhouette und der Aufschrift "Molenbeek", im "o" ist ein Peace-Zeichen

Molenbeek gilt als Chiffre für Dschihadisten. Wie aber ist gerade die Stimmung in Brüssel? Foto: reuters

BRÜSSEL taz | Es ist früh am Morgen. An den Häuserwänden gegenüber sind Laternen angebracht, sie leuchten hell in die Dämmerung hinein. Ich trinke Kaffee und blicke auf die Boogstraat vor meinem Fenster. Mit einem Mal ändert sich etwas. Als hätte ich einen Schlag abbekommen, zucke ich zusammen.

Es braucht eine Weile, bis ich begreife, was der Auslöser für mein Erschrecken ist. Die Straßenlaternen sind erloschen, die Lichtverhältnisse haben sich geändert. Ich reagiere unwillkürlich und heftig auf kaum merkliche Reize aus meiner Umgebung. Ich habe also doch Angst.

Ich weiß nicht mehr genau, welcher Morgen das war. Ich glaube, es war der Montag, also der dritte Tag mit Warnstufe vier. Warnstufe vier, das heißt: keine U-Bahn, keine Schulen, keine Universitäten, keine Theater, keine Kinos, keine Museen, keine Fußballspiele und Arbeitgeber, die allen, die es nicht anders organisieren können, Telearbeit gestatten.

Den Flughafen soll man meiden, die Bahnhöfe und alle Menschenmengen, die sich unter diesen Umständen noch versammeln könnten. Weil bei mir zu Hause der Internetanschluss noch nicht installiert ist – ich lebe erst seit wenigen Wochen in Brüssel –, kommt Telearbeit nicht infrage, ich nehme das Fahrrad und radele ins Büro, von der Rue du Frontispice am nördlichen Rand der Innenstadt, nicht weit von Molenbeek, Richtung Oberstadt und Europaviertel, den Berg rauf, schnaufend. Kaum Autos, an den Straßenecken Polizisten und Soldaten, die einen blau gekleidet, die anderen tragen Kamouflagemuster, sie schultern Schnellfeuerwaffen, der Lauf neigt sich Richtung Boden.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will der Bundeswehr ein neues Image geben: als Armee der Berater und Helfer. Wie das einer sieht, der in Afghanistan war, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. November 2015. Außerdem: Wie Beautybloggerinnen im Kampf gegen den Terror helfen könnten. Und: Der Kabarettist Frank-Markus Barwasser hört auf. Ein Abschiedstreffen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Die Fotos hat jeder gesehen, die Grande Place im Hintergrund, das Weltkulturerbe, davor Männer und Frauen in ihren schusssicheren Monturen. Der goldbeschichtete, verspielte Prunk der Grande Place ist, nebenbei bemerkt, ein Produkt von Zerstörung und konzertiertem Wiederaufbau. Im August 1695 machten französische Soldaten die Stadt dem Erdboden gleich, nur das Rathaus ließen sie stehen. Die Bürger der Stadt errichteten auf dem Schutt das Ensemble der mit Allegorien verzierten Zunfthäuser noch im selben Jahr.

Der Tag

Charles Michel, der belgische Premierminister, spricht von einer ernsten und unmittelbaren Bedrohung. Einer der Attentäter von Paris, Saleh Abdeslam, soll sich in Belgien auf der Flucht befinden. Es gibt Spekulationen, er habe den Sprengstoffgürtel seit dem 13. November nicht abgelegt, er könne sich und uns jederzeit in die Luft sprengen.

Wenn ich Nachrichten höre, sehe oder lese, werde ich den Eindruck nicht los, live der Verfestigung von Vorurteilen zuzuschauen. Terrorhochburg Molenbeek, Dschihadistennest, Brüssel ein Chaos mit seinen 19 „bourgmestres“ und seiner Zwei-, Drei-, Vielsprachigkeit, das ganze Land mit den vielen Regionalregierungen ein „failed state“.

Was ist Somalia, wenn Belgien ein „failed state“ ist, frage ich mich – und zugleich: Wie kann man ein Auge haben für die tatsächlich existierende, gefährliche Radikalisierung der Jugendlichen in Molenbeek, Schaerbeek und Vilvoorde, ohne an den Haaren herbeigezogene Kausalitäten zu behaupten?

Brüssel, eine einzigartige Mischung

Der Zufall – oder besser: die kluge Planung meiner neuen Chefin – will es, dass ich gleich an meinem ersten Arbeitstag Mitte Oktober Bekanntschaft mit dem Soziologen Eric Corijn von der Vrije Universiteit Brussel mache. In der Landesvertretung von Baden-Württemberg erklärt er süddeutschen Unternehmern Brüssel. Er spricht von einer einzigartigen Mischung: hier die internationalen Eliten, Männer und Frauen, die für die EU, die Nato, für Botschaften, Kulturinstitute oder Lobbygruppen arbeiten, dort die Einwanderer aus der Türkei, aus Nord- und dem subsaharischen Afrika, die meisten von ihnen längst eingebürgert, dazu die französisch- und die niederländischsprachigen Belgier.

Er hebt die verführerische Vernetztheit der Stadt hervor, eineinviertel Stunden mit dem Thalys nach Paris, zwei Stunden nach Amsterdam, zweieinviertel Stunden mit dem Eurostar in die Innenstadt von London, was für ein Traum von Geschwindigkeit. Von Brüssel aus in andere Metropolen aufzubrechen, kommt dem Wunsch nahe, sich mit der Geschwindigkeit einer E-Mail zu bewegen. Die Kehrseite des Versprechens, führt Corijn aus, liege darin, dass die Expats ihre Steuern meistens in ihren Herkunftsländern entrichteten. Vom Wohlstand der Entsandten bleibt der Stadt Brüssel nicht viel.

Das Zentrum ist noch nicht gentrifiziert

Und anders als in Paris, New York oder Madrid, anders als in Städten, deren Zentren gentrifiziert und als Wohngegenden begehrt sind, ist es in Brüssel fast noch wie in den siebziger Jahren. Wer Geld hat, zieht ins Umland, verstopft morgens und abends mit seinem Auto die Straßen und zahlt Steuern im flämischen oder wallonischen Speckgürtel.

In der Innenstadt und in den an sie angrenzenden Vierteln wie Anderlecht, Molenbeek oder Saint Josse ten Noode wohnen die, die sich nichts anderes leisten können, neben ihnen die Künstler und Bohemiens, die die Gentrifizierung ankündigen. Mit anderen Worten: Die nördlichen und westlichen Quartiere von Brüssel sind im Augenblick arm, die Arbeitslosigkeit ist hoch, und liest man ein wenig in „The Brussels Reader. A Small World City to Become the Capital of Europe“, einem Sammelband, den mir Corijn zum Abschied in die Hand drückt, dann weiß man auch, dass die jungen Männer, die Saleh oder Mohamed oder Abdel heißen, nicht durchweg gute Erfahrungen machen, so sie sich auf eine Stelle bewerben.

Nicht einschüchtern lassen

Was tun in der lahmgelegten Stadt? Ich möchte mich von der Angst nicht einschüchtern lassen, dann hätten die Dschihadisten gewonnen, also gehe ich raus auf die Straße, auch wenn ich es nicht muss, raus in den Schneeregen, zur Place Sainte Catherine, wo ich ohne Weiteres einen Platz in einem Imbiss bekomme, der Fischgerichte und Austern anbietet und sonst immer überfüllt ist. Ob es wegen des Wetters so leer sei oder wegen der Warnstufe, frage ich die Frau hinter der Theke und schäme mich, kaum habe ich den Satz ausgesprochen. Wie kann ich so blöd sein, klar, der Warnstufe wegen.

Am Sonntag jogge ich am Kanal auf und ab, zunächst durch den Maximilianpark, wo bis vor einigen Wochen noch Asylsuchende campierten, vorbei an Warenhäusern und einem Getränkegroßmarkt bis zum Upsite-Tower, einem 42-geschossigen Gebäude mit komfortablen Wohnungen, Concierge, Privatkino, weiter nördlich führt der Weg nicht weiter, Hafengelände, eine Altmetallhalde in der Ferne, ich drehe um und laufe Richtung Süden, überquere den Ring, auf der einen Seite des Ufers ist nun Molenbeek, auf der anderen die Innenstadt. Neonbeleuchtete Geschäfte, in denen man Kochbananen und Süßkartoffeln oder indische Ayuverda-Seife kaufen kann, koexistieren hier mit einem Laden der Luxusmarke Maison Margiela oder einer Werkstatt für Bilderrahmen, die, wie mir der freundliche Rahmenbauer erklärt, Museumsqualität besitzen.

Die Nacht

Einen meiner bisher schönsten Abende in Brüssel erlebe ich in Molenbeek, bei einer Party in einem Gebäude, das ich mir nicht erklären kann, eine Mischung aus Garage, Werkstatt und Wohnhaus, in einer Halle stapeln sich Strohballen, als gäbe es Kutschpferde oder Kühe. Ich komme mit einem jungen Syrer ins Gespräch, der in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert hat, es gibt eine queere Performance, der ich nicht folge, weil ich viele von diesen großartigen belgischen Bieren getrunken habe, es ist einer dieser gleitenden, intensiven Abende, einer von denen, für deren Dauer Fremde Freunde sind.

Die Party war noch im Oktober, vor den Pariser Attentaten, vor der Warnstufe 4. Ob die Normalität und das Feiern zurückkehren, jetzt, da die Warnstufe abgesenkt wurde? Schwer zu sagen. Auf den Straßen, in der U-Bahn, in den Läden sieht es fast wieder aus wie immer; als am Donnerstag in der Früh zwei Sicherheitskräfte am U-Bahnhof Yser einen herrenlosen schwarzen Rucksack finden, machen sie Witze mit den Fahrgästen, die sie verständigen.

Kürzlich interviewte Zeit Online den Theatermacher Milo Rau, der lange in Brüssel für ein Stück über einen IS-Kämpfer recherchiert hat. „Ich habe die Rede von Bildung und Chancengleichheit eigentlich immer für ein bisschen hohl gehalten“, sagt er. „Aber nach meiner Zeit im Banlieue von Brüssel muss ich sagen: Genauso ist es.“

In der Brussels Boxing Academy in der Rue du Boulet, nicht weit von Molenbeek, üben junge Belgierinnen, viele mit nordafrikanischem Hintergrund, Kinn- und Leberhaken. Donnerstags ist Frauentraining, Mohamed Idrissi, der Trainer, scheucht uns unnachgiebig durch die große Halle, gibt Kommandos auf Französisch, Niederländisch und Arabisch, die Musik wummert laut, eine Coverversion des Agitsongs „Comandante Che Guevara“. An der Tür hängt ein DIN-A4-Blatt, eine Schwarzweißkopie, „Molenbeek“ steht darauf, eine Fantasie-Skyline mit einer Moschee, einem Kirchturm und einer Straßenlaterne, darunter ein großes Friedenszeichen.

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Die 47-Jährige war von 2002 bis 2015 taz-Filmredakteurin. Jetzt leitet sie am Goethe-Institut Brüssel das Kulturprogramm für die Region Südwesteuropa.

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