Nach Haitis Präsidentschaftswahlen: "Das Volk ist wütend"

Überfälle auf Stimmlokale, tausende Namen fehlen auf den Wahllisten. Die Haitianer erwarten nichts vom Wahlergebnis. Sie glauben, die regierende Inite-Partei hat getrickst.

Frustrierte Wähler protestieren auf den Straßen von Port-au-Prince. Sie werfen der Partei von Staatschef Préval Wahlfälschung vor. Bild: andreas herzau

PORT-AU-PRINCE taz | Willy hat mit dem Finger Zeile für Zeile über die Namensliste gestrichen, die außen neben dem Eingang zum Wahllokal hängt. Der Elektriker hat sein ganzes Erwachsenenleben lang im Lycée National gewählt. Auch vor fünf Jahren, als er zuletzt für einen Präsidenten für Haiti gestimmt hat. Seither ist seine Adresse gleich geblieben. Aber sein Name ist aus den Wählerlisten verschwunden. Er kann nicht wählen. Seine Frau Marlie hingegen, mit der er am Sonntag gekommen ist, darf. Sie hat den im Wahllokal tintengeschwärzten rechten Daumen. Er nicht. "Unser Präsident ist unfähig", schimpft Willy. "Er hat Berge von Dollars aus dem Ausland bekommen und verschwendet, während eineinhalb Millionen Landsleute auch zehn Monate nach dem Erdbeben noch in Zelten leben. Und jetzt ist er nicht einmal in der Lage, eine Wahl zu organisieren."

Willy hat den scheidenden Präsidenten zwei Mal gewählt. Aber die letzten fünf Jahre René Preval haben ihn einfach nur wütend gemacht. Dass Preval dem Land zum Abschied auch noch einen Nachfolger aus seinem engsten Kreis aufdrängen will, macht die Sache schlimmer. "Jude Célestin, dieser Vagabund, hat 13 Kinder mit fast ebenso vielen Frauen", sagt Willy über den Mann, dem der scheidende Präsident das Amt übergeben will, "mit seinem 13. Kind ist er Schwiegersohn von Préval geworden." Jude Célestin, der Präsidentschaftskandidat der machthabenden Partei "Inite" (Einheit-Partei), war bis zum vergangenen Sommer ein in der großen Öffentlichkeit unbekannter, leitender Beamter. In Haiti gilt es vielen als ausgemachte Sache, dass er nur mit Hilfe von Geld und Fälschungen zum Präsidenten werden könnte. Célestin war zuständig für Infrastrukturarbeiten.

In den Wochen vor der Wahl haben seine Anänger das ganze Land mit seinem Konterfrei vor dem grün und gelben Hintergrund der Inite-Partei vollgekleistert. Jude Célestin klebt jetzt an den Mauern, flattert über die Straßen und wird von kleinen Flugzeugen durch den Himmel über Haiti gezogen. "Er hat unbegrenzt Geld", sagt Willy. Er selbst findet schon lange keine Arbeit mehr als Elektriker. Obwohl das Kabelwirrwarr längs der Straßen von Port-au-Prince nach Reparaturen verlangt. Und obwohl nur jene wenigen Haushalte, die sich private Generatoren leisten können, ständig Strom haben.

"Kommt wählen! Laßt uns Haiti gemeinsam wieder aufbauen!" steht auf dem Poster vor dem großen Wahllokal. Aber von den Menschen, die diese Aufforderung an diesem letzten Sonntag im November wörtlich nehmen, blitzen viele genauso ab, wie Willy. In Raum Nummer vier sagt eine lächelnde junge Frau: "Ich erwarte nichts Gutes von diesen Wahlen." Die 23jährige medizinisch-technische Assistentin Natasha ist an diesem Tag Wahlbeobachterin für die haitianische Gruppe CNO. Seit sechs Uhr morgens sitzt sie auf einer der im hinteren Teil des Klassenraums gestapelten hölzernen Pulte. Neben und hinter ihr sitzen die Wahlbeobachter der Kandidaten.

Als erstes ist Natasha an diesem Wahlmorgen aufgefallen, dass die Wahlunterlagen zu spät geliefert wurden. Das hat den Wahlbeginn um eine halbe Stunde verzögert. Dann sind immer neue Wähler gekommen, deren Namen nicht mehr in den Listen stehen. "Das sind Fehler der Wahlkommission", sagt Natasha. "Unsere Elite soll dafür sorgen, dass das Land funktioniert. Stattdessen organisiert sie Wahlen, die es noch schlimmer machen. Das wird neue Demonstrationen auslösen. Und das Land, die Schulen und wir alle riskieren neue Blockaden."

Mit ihren Augen und einem Ohr verfolgen Natasha und ihre Freundin Nadège das Geschehen in dem Klassenraum im Lycée National. Mit dem anderen Ohr hören sie die Live-Berichterstattung des haitianischen Rundfunks über die Kopfhörer eines Handy-Radioa. Sie erfahren von Urnen an mehreren Orten des Landes, die schon vor der Eröffnung der Wahllokale mit angekreuzten Stimmzetteln gefüllt sind. Von Demonstranten in Delmas, die eine Straße blockieren, um ihr Wahlrecht einzuklagen. Von Polizisten in Carrefour, die nur Wähler mit Parteiausweis der Inite in das Lokal lassen. Von zwei Lastern voller junger Männer, die ein Wahllokal in Tabarre stürmen, die Stimmzettel zerreissen und die Computer stehlen. Unterdessen schauen die beiden anwesenden haitianischen Polizisten tatenlos zu. Die UN-Soldaten kommen erst eine Stunde nach dem Überfall. Und von Trou du Nord, wo Maskierte ein Wahlbüro überfallen haben und mit den Urnen verschwunden sind. "Schockierend", sagt Nadège über den Verlauf der Wahlen. Die 21jährige hatte wenige Monate vor dem Erdbeben mit dem Medizinstudium begonnen: Sie will "dem Land helfen". Seit dem 12. Januar liegt ihre Universität am Boden. Ihr Studium ist unterbrochen.

Am Mittag gibt Kandidat Jude Célestin seine Stimme in dem Lycée National ab. Während er wählt, wird das Wahllokal zu einem Demonstrationsplatz mit ohrenbetäubendem Lärm und viel Gedrängel. Dutzende junger Männer bahnen sich schubsend und gröhlend den Weg durch die Gänge und Balkons auf den drei Etagen der Schule. Sie skandieren "Célestin prézidan". Von draußen kommt das gleichlautende Echo weiterer Célestin-Unterstützer. Sie stehen in gelb-grünen T-Shirts auf der Straße, inmitten des Latrinen-Geruchs, der von der Zeltstadt auf der anderen Straßenseite herüberweht, und werden von Männern mit gelben Helmen begleitet.

Die Célestin-Anhänger sind nicht die einzigen, die an diesem Wahlsonntag in Lastwagen zu dem Wahllokal gekarrt worden sind. Ein paar Meter weiter, und durch eine dicht geschlossene Reihe von UN-Blaumhelmsoldaten von den Célestin-Anhängern getrennt, tanzen und skandieren in pinkrosa gekleidete Leute. Sie wollen, dass der Sänger "Sweet Micky", bürgerlich Michael Martelly, Präsident wird. Auch die Micky-Anhänger sind gut organisierte mobile Einsatztruppen. Noch bevor Célestin das Wahllokal verläßt, erobern mehrere Dutzend "Micky-Anhänger" die Balkons des Wahllokals. Von oben rufen sie auf die stinkende Straße herunter, was sie von der Partei des scheidenden Präsidenten Préval und seines Kandidaten Célestin halten: "Das ist Gift - das ist Cholera".

Mirlande Manigat hält ihren im Wahlbüro mit Tinte markierten rechten Daumen in die Kameras. Mit ihrem Zeige- und Mittelfinger formt sie dazu ein Siegeszeichen. Die frühere Universitätsprofessorin hat den am 12. Januar in sich zusammengesackten Präsidentschaftspalast noch in seiner alten Pracht von innen erlebt. Im Jahr 1988 war ihr Mann - bis zu einem Militärputsch - ein paar Monate lang Präsident. Jetzt möchte die 70jährige selbst Präsidentin werden und in das klimatisierte Zelt auf dem Friedhof einziehen, das als provisorischer oberster Amtssitz dient. Neben Celestin, "Micky" und dem Unternehmer Baker ist sie die vierte in dem Kreis jener, die es schaffen könnten, Haiti zu regieren. Kaum hat Manigat ihre Stimme abgegeben, protestiert sie gegen die "Machenschaften und Wahlmanöver durch Inite", die Präsidentenpartei.

Wenige Stunden später wird sie neben "Micky", Baker und neun anderen KandidatInnen - von insgesamt 18, die bis zum Schluß im Rennen um die Staatspräsidentschaft geblieben sind - im Kongreßzentrum sitzen. Alle zwölf gemeinsam verlangen feierlich die Annulierung dieser Wahlen: wegen Betrug, Druck auf Wähler und Wahlbüroleiter sowie Fälschung. Sie fordern auch den sofortigen Rücktritt von Präsident Préval.

Kaum ist die Pressekonferenz der 12 KandidatInnen am frühen Nachmittag zuende und lange bevor die Wahllokale schließen, füllen sich die Straßen von Port-au-Prince mit Demonstranten. Anders als bei den mobilen Einsatzkommandos, die in den Stunden zuvor unterwegs waren, sind dieses Mal auch Frauen dabei. Eine junge Frau hat nicht einmal Zeit gehabt, ihre Lockenwickler aus dem Haar zu nehmen. Sie wollte unbedingt dabei sein. Auch ihr Name ist aus den Stimmlisten verschwunden. Mütter haben ihre Babies mitgebracht. Auch einige ältere Leute protestieren gegen die Wahlfälschungen. Mit dabei sind Erdbebenopfer, die in Zeltstädten leben und trotz vieler Bemühungen keine Wählerkarte bekommen haben sowie mehrere Präsidentschaftskandidaten - und der Sänger Wyclaf Jean. Auch er wollte für das Präsidentenamt kandidieren. Doch die Wahlkommission lehnte ihn ab. Begründung: Er lebt in den USA.

Die Demonstranten laufen in Richtung Wahlkommission. Später, in der Nacht zum Montag, werden zahlreiche weitere kleine und große Demonstrationen kreuz und quer durch die Stadt ziehen. "Das Volk ist wütend", sagt eine ältere Frau am Straßenrand, "es fühlt sich um sein Wahlrecht betrogen." Dann prognostiziert sie: "Wenn es dunkel ist, wird das gefährlich hier."

Am Abend spricht der Chef der provisorischen Wahlkommission von einem "Erfolg". Gaillot Dorsainvie sagt, ohne eine Miene zu verziehen, dass es "nur" in 56 der insgesamt 1.500 Wahlbüros Störungen gegeben habe. Und nennt das eine "extraordinäre Performance". Den Ruf nach einer Annulierung der Wahlen bezeichnet er als "politische Strategie" der zwölf Kandidaten.

Mit diesem Optimismus steht er ziemlich allein. Bei einer Krisensitzung am Nachmittag des Wahltages äußern auch die Vertreter von UNO, USA und mehrerer europäsicher Länder Proteste. "Wir sind in einer politsichen Sackgasse", sagt der französische Botschafter. Antonal Mortimé, Chef der haitianischen Menschenrechtsgrupe, POHDH, hat mit seinen Kollegen während des Wahltages Lokale in allen Teilen der Hauptstadt besucht. Sein Fazit: "Zahlreiche Irregularitäten". Angefangen damit, dass "mehr als 50 Prozent der Wähler nicht in den Wählerlisten stehen", weiter mit der unzureichenden Sicherheit der Wahllokale bis hin zu gefälschten Stimmzetteln und Wahlkabinen, die "von außen einsehbar sind".

Die Wahlkommission will ihre Arbeit unbeirrt fortsetzen. In dieser Woche will sie erste Ergebnisse der Wahlen bekannt geben. Die Stichwahl ist - falls nötig - für Januar geplant. Der Monat, in dem sich das Erdbeben zum ersten Mal jährt.

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