Nach Streikaufruf in Frankreich: Premierminister Bayrou kündigt Vertrauensabstimmung an
Ein Appell zu Protesten und Generalstreik am 10. September bringt Bayrou in Zugzwang. Dem „heißen Herbst“ will er mit dem Vertrauensvotum zuvorkommen.

Das Datum ist nicht zufällig gewählt, denn zwei Tage danach am 10. September soll eine politisch heterogene Mobilisierung „alles blockieren“. Was genau geschehen kann, ist noch unklar, aber ein Teil der politischen Linken, allen voran La France Insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon ist auf den Zug aufgesprungen und ruft für diesen Tag zu einem Generalstreik der Werktätigen auf. Die Grünen und die Kommunisten haben sich dem angeschlossen, die Sozialisten und die großen Gewerkschaftsverbände zögern noch, weil sie die Zielsetzungen der Protestbewegung für zu „konfus“ halten.
In mancher Hinsicht gleicht diese ausgehend von individuellen Appellen von „Wutbürgern“ auf den Netzwerken in Gang gesetzte Bewegung den „Gelbwesten“. Ab Ende 2018 brachte sie mit ihren Forderungen nach mehr Kaufkraft, mehr Bürgerrechten und Respekt für die in isolierten ländlichen Zonen Lebenden die Staatsmacht zum Zittern.
Bayrou weiß, dass die Unzufriedenheit und die Wut im Land unvermindert groß ist. Fast 70 Prozent der Leute sprechen sich laut einer Umfrage für den Appell, am 10. September alles stillzulegen, aus, nur 26 Prozent sind dagegen (den restlichen 4 Prozent ist wohl alles egal).
Einsparungen von 44 Milliarden Euro
Dieser Gefahr, von Streiks, Demonstrationen, Straßenbarrikaden und Ungehorsam am 10. September in die Enge getrieben zu werden, will der Regierungschef zuvorkommen. Indem er die Abgeordneten der Nationalversammlung bereits eine Woche nach der Rentrée, dem Schulbeginn, zu einer außerordentlichen Sitzung einberuft, will er zeigen, dass er die Initiative ergreifen kann und nicht einfach zu warten gedenkt, bis er (früher oder später) durch einen Misstrauensantrag der Opposition gestürzt wird.
Bayrou weiß, dass er an der Spitze einer Minderheitsregierung steht. Er hat keine Mehrheit in der Nationalversammlung. Nur dank Regierungsmitarbeit der Konservativen und der bisherigen passiven Duldung des rechtsextremen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen ist er noch im Amt. Mit der Dynamik der Mobilisierung des 10. September möchte die linke Opposition, deren Fraktionen zusammen ebenfalls keine Mehrheit haben, nun zum Frontalangriff auf die Regierung und ihre Sparpolitik blasen.
Bayrou hält für 2026 einen Staatshaushalt bereit, der Einsparungen von 44 Milliarden Euro vorsieht. Der Etat von fast allen Ministerien wird gekürzt, die Altersrenten werden eingefroren (der Teuerung nicht angepasst), und dann will er auch, dass alle auf zwei bisherige Feiertage verzichten, was eine Mehrheit der Franzosen und Französinnen bereits in Rage bringt.
Doch nur so, glaubt Bayrou, lasse es sich vermeiden, dass Frankreich in einer Schuldenspirale versinke. Die rasch wachsende Schuldenlast sei ein „Fluch“, den man jetzt noch abwenden könne. Wer dagegen diese Problematik nicht wahrhaben wolle, mache sich schlicht des „Verrats“ schuldig, sagte der Premier in seiner Moralpredigt vor den versammelten Medien. Die „Unordnung“, wie sie eine gewisse Linke mit einer erneuten Protestbewegung anrichten wolle, könne sich das Land nicht leisten.
Genaue Form der Einsparungen noch unklar
Bayrou appellierte mit dem Blick in die Kamera an das Verantwortungsbewusstsein der Bürger, die ja bisher von den Staatsausgaben profitiert hätten: „Die Wahrheit ist, dass die (akkumulierten) Schulden von jedem von uns kommen.“ Über die Modalitäten der Einsparungen und die Verteilung der finanziellen Opfer möchte Bayrou in der Parlamentsdebatte und einem Dialog mit den Sozialpartnern noch diskutieren.
Doch das Wesentliche steht in seinem Haushaltsentwurf, den die Abgeordneten mit einem Vertrauensvotum am 8. September im Voraus akzeptieren – oder eben nicht. Im Fall eines negativen Ausgangs müsste Macron (schon wieder) eine neue Regierung ernennen oder Neuwahlen ansetzen.
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