Nach Tod von 39 Migranten bei London: Menschenschmuggler im Visier

Vietnams Polizei nimmt 10 Verdächtige fest, die die 39 Migranten nach Großbritannien geschleust haben sollen. Debatte über Preis des Wohlstands.

Hand hält Kerze während eines Gottesdienstaes zum gedenken an 39 Tote

Gottesdienst zum Gedenken an die 39 Toten am 26. Oktober in Vietnam Foto: Kham/reuters

BERLIN taz | Nach dem Fund von 39 Leichen in einem Lastwagen nahe London hat die vietnamesische Polizei acht Verdächtige in der zentralvietnamesischen Provinz Nghe An festgenommen. Sie sollen laut Behörden Teil eines Schleuserrings sein, der Vietnamesen illegal nach Großbritannien bringt, schreiben staatliche Medien.

Bereits letzte Woche seien zwei Menschen in Verbindung mit dem Fall in der Nachbarprovinz Ha Tinh festgenommen worden. Wer die Festgenommenen sind, blieb unklar.

Aus beiden Provinzen haben sich insgesamt 28 Familien bei Medien und vietnamesischen und britischen Behörden gemeldet, weil sie Angehörige unter den Toten im Lkw vermuten.

Die Identifizierung der Leichen läuft. Vietnams Vize-Außenminister Nguyen Quoc Cuong reiste am Sonntag mit Experten nach Großbritannien, um die kriminaltechnischen Untersuchungen zu unterstützen. Angehörigen war genetisches Material entnommen worden. Die britische Polizei ermittelt wegen Totschlags in 39 Fällen und Menschenhandels.

„Ernsthafte menschliche Tragödie“

In Vietnam und den weltweiten Communitys der Auslandsvietnamesen gibt es Gedenkgottesdienste für die überwiegend aus katholischen Gemeinden stammenden Vermissten.

In Vietnams Nationalversammlung bedauerte ein Regierungsvertreter den Tod der 39 mutmaßlichen Vietnamesen und kündigte eine Bestrafung der Schuldigen an. Eine Außenamtssprecherin sprach von einer „ernsthaften menschlichen Tragödie“.

Das sind neue Töne. Denn traditionell feiert Hanoi die Auswanderung aus Zentralvietnam, solange die Migranten Geld nach Hause schicken. Auslandsvietnamesen schickten 2018 laut Weltbank fast 16 Milliarden US-Dollar nach Vietnam. 2006 waren es erst 3,8 Milliarden gewesen. Bereits diese Summe überstieg die Entwicklungshilfe, die Vietnam aus dem Ausland bekommt.

Hanoi überlässt den Geldfluss nicht dem Zufall: Seit 2004 sind in den Botschaften spezielle Diplomaten für die Arbeit mit Auswanderern zuständig, ein Auslandsfernsehprogramm sorgt für Heimatbindung und animiert zu Geldtransfers.

„Wer mit bestimmten Reisebüros reist, bleibt unkontrolliert“

Der in Berlin lebende vietnamesische Journalist Trung Khoa Le hat recherchiert, dass die dem Hanoier Innenministerium unterstellte Flughafenpolizei Ausreisende nicht kontrolliert, sofern sie mit bestimmten „Reisebüros“ reisen, die Teil eines Schleusernetzwerks sind. Der erste Teil der Reise nach Europa geht per Flugzeug nach China oder Russland.

Kontroversere Debatten löste ein Video der staatlichen Zeitung Zing aus einem Dorf aus, in dem drei Menschen vermisst werden. Die 15.000 Einwohner zählende Gemeinde Do Thanh in Nghe An gehörte einst zu Vietnams ärmsten Dörfern. Die Bewohner lebten vom Reisanbau. Heute wohnen die Bauern in Villen und fahren Autos. Die Villen überragt eine majestätische Kirche im Renaissancestil.

Die Bewohner sagen offen, woher ihr Reichtum kommt: von den 10 Prozent der Bewohner, die in Europa oder Taiwan leben und Geld nach Do Thanh schicken. „70 bis 80 Prozent der Villen hier wurden mit Überweisungen gebaut“, sagt Bürgermeister Nguyen Van Ha.

Obwohl im Unterschied zu anderen zentralvietnamesischen Gemeinden das Leben in Do Thanh nichts mehr mit Armut zu tun hat, machen sich noch immer Bewohner auf den Weg ins Ausland.

Das große Geld lockt. Wie es verdient wird, will keiner genau wissen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das meiste Geld mit dem Anbau von Cannabis in verlassenen britischen Bauernhöfen verdient werden kann. Dieses Geschäft ist fest in vietnamesischer Hand.

In Vietnams sozialen Netzwerken wird jetzt debattiert, was der Reichtum wert ist. Soll man dafür sein Leben riskieren? Die Debatte erinnert an den Roman „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt aus der Schweiz der 1950er Jahre. Die Behörden haben bereits 2007 mehrere Aufführungen des Stücks, die mit Unterstützung des Goethe-Institutes entstanden, verhindert.

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