Nach dem Erdbeben in Japan: Atom-Katastrophe aus dem Lehrbuch

Die Explosion im japanischen Akw Fukushima I ist das, was sich Wissenschaftler als den Super-GAU vorgestellt haben. Jetzt beten alle, dass sich der Wind nicht dreht.

Mit Atemmasken ausgestattet evakuieren Polizisten Anwohner der Fukushima-Akws. Bild: reuters

BERLIN taz | "In Fukushima ist keine wissenschaftliche Überraschung passiert", sagt Lothar Hahn. "Jeder Experte kennt dieses Szenario einer Kernschmelze." Für den ehemaligen Chef der Reaktorsicherheitskommission (RSK) des Bundes hat sich in Japan "in klassischer Weise das Restrisiko der Atomkraft realisiert", über das in den vergangenen Jahrzehnten die Gegner und Befürworter der Atomkraft gestritten haben. "Es ist der Vorfall, der statistisch gesehen einmal alle 10.000 oder alle 100.000 Jahre passieren dürfte."

Das ändert nichts an den möglicherweise fatalen Folgen: "Das könnte eine Katastrophe werden", sagt Hahn, der bis zu seiner Pensionierung lange die "Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit“" (GRS) leitete: Kernschmelze im Reaktor, eine Explosion, die den Sicherheitsmantel ("Containment") sprengt und hochradioaktive Gase und Teilchen freisetzt. "Die Einzelinformationen ergeben ein düsteres Bild", meint Hahn. Seine Hoffnung: Dass der Wind weiter vom Land aufs Meer bläst. Und sich nicht in Richtung der 30-Millionenstadt Tokio dreht.

Das aber ist unsicher. Auf der Wetterkarte des japanischen Wetteramtes zeigen sich zwar an der Ostküste des Landes in der Provinz Fukushima am Samstag nur schwache Winde, die aufs Meer hinaus wehen. Doch über den angrenzenden Gegenden bläst der Wind durchaus auch in Richtung Westen und Süden – auf die großen Städte zu. Und noch ist unklar, ob die Katastrophe überhaupt schon ihren Höhepunkt erreicht hat: Denn die Menschen in Japan rechnen weiterhin mit Nachbeben. Die Infrastruktur ist teilweise zerstört.

Und neben dem explodierten Akw-Reaktorgebäude Fukushima Daiichi, Block 1 kochen noch zwei weitere Reaktoren (Block 2 und 3) praktisch ungekühlt vor sich hin. Und auch um den Atomstandort Daini (Fukushima II) gleich nebenan macht sich die japanische Atombehörde so große Sorgen, dass die Bevölkerung in einem Umkreis von zehn Kilometern evakuiert wird.

Der Vorlauf zur Havarie in Fukushima Daiichi, Block 1 folgte offenbar "Murphy's Gesetz": Was schief gehen kann, geht schief. Am Anfang steht ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 8,9 – mehr als das, wofür die Akw selbst im erdbebenerprobten Japan ausgelegt sind. Durch das Erbeben fällt die Stromversorgung für die Pumpen aus, die das Kühlwasser in den Reaktor bringen. Die Diesel-Notaggregate springen an, werden aber eine Stunde später vom Tsunami überflutet und zerstört.

Das dritte Kühlsystem, das nach Angaben der internationalen Atomenergiebehörde IAEA zum Teil aus Batterien gespeist und zum Teil über Verdunstung funktioniert, kann die Glut im Reaktor nicht mehr ausreichend kühlen. Und weil die gesamte Infrastruktur des Landes am Boden liegt, schaffen es Technikertrupps nicht rechtzeitig zu den Atomkraftwerken, um neue Pumpen zu installieren oder die alten wieder flottzukriegen.

Was nun passiert, wurde schon lange in den Lehrbüchern der Atomwerker diskutiert: Der Reaktorkern wird so heiß (bis zu 2.500 Grad Celsius), dass er das Wasser im Kühlkreislauf in Wasserstoff aufspaltet. Mit dem frei verfügbaren Sauerstoff bildet sich ein explosives Gemisch, das sich irgendwann an einem Funken entzündet. Die Explosion reißt den Schutzmantel auf, das Gas tritt aus.

Unklar ist, wie sich der überhitzte Kern, eine glühende Masse aus dem Uran der Brennstäbe (möglicherweise auch Plutonium, falls in der Anlage MOX-Elemente aus der Wiederaufbereitung verwendet wurden) verhält: Nach Informationen von Wissenschaftlern und Umweltgruppen ist es bereits zur Kernschmelze gekommen, diese soll aber im noch intakten Druckbehälter ablaufen.

"Es ist nach wie vor ein Wettlauf mit der Zeit, ob die Behörden es schaffen, den Reaktor so weit zu kühlen, um eine große Kernschmelze zu verhindern", sagt Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital. Die Betreiber haben angekündigt, Meerwasser dazu einzusetzen. Große Kernschmelze, das bedeutet: Der glühende Kern aus Urantabletten und Metallteilen des Druckbehälters ergießt sich in die geborstene Außenhülle des Reaktors und bekommt Kontakt zur Atmosphäre. Für diesen Notfall haben die AKW der "dritten Generation", wie der französische EPR, der in Finnland und in der Normandie gebaut wird, ein eigenes "Auffangbecken" – der Reaktor in Fukushima hat nichts dergleichen.

Die Kernschmelze von Fukushima ist offenbar ein konsequenter Betriebsunfall: Anders als bei den hunderten von "normalen" Störfällen versagten alle Sicherungssysteme; anders als bei der partiellen Kernschmelze im Akw Three Mile Island im US-amerikanischen Harrisburg 1979 konnte niemand in letzter Sekunde ein Ventil öffnen und den Druck aus dem Kessel lassen – weil in Fukushima kein Strom zur Öffnung der Ventile da war. Und anders als in Tschernobyl war Fukushima offenbar kein Bedienungsfehler einer von sich zu sehr überzeugten Mannschaft.

Japan betreibt seit Jahrzehnten inzwischen mehr als 50 Atomreaktoren, hat bei der Sicherheit einen guten Ruf und stellt seit 2009 mit Yukiya Amano den Chef der UN-Behörde für die zivile Nutzung der Atomkraft (IAEA). Die Unterlagen der japanischen Atomsicherheits-Behörde JPNES zeigen denn auch im letzten Jahresbericht keine Auffälligkeiten: Zwar gab es seit 1966 in der japanischen Atomindustrie insgesamt 728 Störfälle, darunter 152 automatische Abschaltungen im laufenden Betrieb (wie etwa auch dieses Mal bei der Tsunami-Warnung) und 263 Notabschaltungen per Hand. Aber allein in den letzten drei Jahren des Berichts 2007-2009 wurde keine einzige automatische Abschaltung registriert.

Von Versäumnissen der Betreiber will deshalb auch Greg Webb, Sprecher der IAEA, nicht sprechen. Zwar habe er keine Daten über ausgetretene Radioaktivität aus Japan vorliegen, sagt er auf Anfrage der taz. „Aber das hat wohl damit zu tun, dass die Kollegen vor Ort mit dringenderen Sachen beschäftigt sind“ und der Datentransfer an die IAEA nicht die allererste Priorität habe.

Webb bestätigt aber, dass die japanischen Behörden „sehr sorgfältig“ die Entwicklungen in den Reaktoren Daiichi 2 und 3 beobachteten, deren Kühlsysteme auch nur zu einem geringen Teil funktionieren. Über den weiteren offenbar bedrohten Akw-Standort Daini, wo auch die Bevölkerung evakuiert wird, hat Webb "keine Informationen vorliegen".

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