Nach dem Mord an Morsal: „Du wirst keine deutsche Schlampe“

Hamburg hat eine Schutzeinrichtung für Mädchen aus Einwandererfamilien geschaffen. Doch wie es danach weitergeht, ist vielen nicht klar.

Bettlektüre: In der "Zuflucht" dürfen die Mädchen lesen, was sie wollen. Bild: Archiv

Der Anruf, der Morsal das Leben kostete, kam von ihrem Cousin. Im Auftrag ihres Bruders bat er sie um ein Treffen, auf einem Parkplatz an einem S-Bahnhof. Noch in der Nacht war Morsal tot. Ob sie auf den Strich gehe, hatte ihr Bruder gefragt. „Das geht dich einen Scheißdreck an“, antwortete sie.

Morsal starb, weil sie leben wollte wie andere Mädchen in Hamburg auch. Sie schminkte sich, trug kurze Röcke, ging abends aus. Ihre aus Afghanistan geflohene Familie konnte das nicht ertragen. Ihr Bruder habe sie getötet, „weil alle Versuche, ihr die afghanischen Wertvorstellungen anzuerziehen, misslungen waren“, sagte der Richter bei der Urteilsverkündung im Februar 2009.

Nur wenige Monate später, im November 2009, eröffnete in Hamburg ein deutschlandweit einzigartiges Projekt: die „Zuflucht“. Junge Frauen aus Einwandererfamilien können dort unterkommen, ohne vorher Formalitäten mit dem Jugendamt klären zu müssen.

Die Familien sollen nicht wissen, wo die Mädchen sind, darum ist die Adresse wie bei den Frauenhäusern geheim. Doch die Anonymität zu gewährleisten ist schwer, wie eine Mitarbeiterin erzählt. Den Nachbarn fällt auf: Dort, wo viele Mädchen mit oder ohne Kopftuch ein und aus gehen, muss eine Jugendwohnung sein. Manche der Mädchen nehmen das Kopftuch hier zum ersten Mal ab, müssen jedoch erst stundenweise üben, denn sie sind es nicht gewohnt.

So ist es schon vorgekommen, dass Taxifahrer oder Anwohner die Familien direkt vor die Haustür führten. „Um die ,Familienehre‘ wieder herzustellen, werden die Familien zu krankhaften Stalkern“, sagt die Mitarbeiterin. Das gehe bis hin zum Ausgeben als Mitarbeiter einer sozialen Schutzeinrichtung. Auch die Betreuerinnen fürchten sich davor, dass die Familien sie verfolgen könnten, um an die Mädchen heranzukommen. Deshalb möchten sie ihre Namen nicht in der Zeitung sehen.

Im November 2009 eröffnete der damalige Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) die „Zuflucht“ als Schutzeinrichtung für junge Migrantinnen.

Die Stadt finanziert das Projekt mit knapp 390.000 Euro jährlich.

Das Alter der Mädchen liegt zwischen 12 und 21 Jahren, 60 Prozent sind minderjährig.

Die Aufenthaltsdauer ist auf acht Wochen beschränkt. Der damalige grün-schwarze Senat plante darum ein Wohnprojekt für Migrantinnen als „ambulante Anschlussmaßnahme“.

200.000 Euro jährlich waren dafür im Haushalt vorgesehen.

Nach dem Wahlsieg der SPD wurden die Pläne fallen gelassen. Der neue Senat erklärte, dies diene dem „Schutz der Frauenhäuser“, bei denen man sonst hätte kürzen müssen.

Jedes Jahr ist die Zuflucht zu etwa 80 Prozent ausgelastet. Sechs bis sieben Mädchen können kurzfristig in die Betten schlüpfen, über denen Katzenfotos und Poster mit Pop-Bands hängen. Der Wunsch nach Selbstbestimmung treibt sie dazu, von zu Hause wegzulaufen. Doch dann wiederholen sich die strengen Regeln von zu Hause: Handy abgeben, keine Freunde treffen und kein Internet, damit sie keiner orten kann.

„In den ersten zwei Wochen wird die Wohnung nicht verlassen, denn da ist die Gewaltbereitschaft der Familien am höchsten“, sagt die Mitarbeiterin. Nur zwei Drittel der Mädchen halte durch. Die anderen gehen nach Hause zurück wie Morsal: Sie verließ eine Unterkunft des Kinder- und Jugendnotdienstes, als sie ihr Handy abgeben sollte.

Acht Wochen können die Mädchen in der Zuflucht bleiben, dann muss eine Wohnung oder eine betreute Jugend-WG gefunden sein. Doch Wohnungen sind schwer zu finden, und WGs sind für die Mädchen nicht der richtige Ort. „Man darf nicht vergessen, dass Kinder und Frauen, die schwere Gewalt erlebt haben, fast alle therapiebedürftig sind“, sagt die Zuflucht-Mitarbeiterin. Wenn die Mädchen nachts in ihren Betten liegen, kommen die Erlebnisse wieder. Dann sehen sie ihre Väter und Brüder, hören ihre Stimmen und Drohungen: „Du wirst keine deutsche Schlampe“ ist der häufigste Satz der Eltern.

Meistens werden die Mädchen darum an Frauenhäuser weitergereicht, doch der Familie zu entkommen, ist schwer. Für ihr neues Leben räumte ein Mädchen aus der Zuflucht ihr Konto leer. Die Hamburger Sparkasse schickte die Kontoauszüge an die alte Adresse. Die Bank versteht das als Service. Weil bei EC-Kartenzahlungen der Geldautomat vermerkt wird, wusste die Familie, in welchem Stadtteil sich ihre Tochter aufhielt. Sie suchte wochenlang, befragte Anwohner, bis sie eines Tages vor der Tür stand.

Trotzdem liegt die größte Gefahr für die Opfer immer noch bei ihnen selbst. Sie schaffen es nicht, sich zu lösen. Bei Morsal wussten alle von den Misshandlungen: die Polizei, das Jugendamt, die Lehrer, die Freunde. Zwei Jahre lang rief Morsal immer wieder die Polizei, weil ihr Bruder sie geschlagen oder gewürgt hatte. Einmal soll er sogar versucht haben, ihr die Kleider auf den Körper zu tackern. Doch die Polizei konnte nichts tun: Morsal weigerte sich, die Anzeigen zu unterschreiben, oder machte später von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.

Einmal sagte sie, sie wolle keine Strafe für ihre Familie, nur ein Ende der Gewalt. Der Wunsch hat sich nicht erfüllt.

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