Nach den ersten Wahlen in Syrien: Die Auswahl der Gemäßigten
Syrien hat ein neues Parlament. Bei dem undemokratischen Auswahlverfahren schafften es nur wenige religiöse Minderheiten und nur sehr wenige Frauen.
taz | Syrien hat ein neues Parlament. Nach 54 Jahren autoritärer Herrschaft unter der Assad-Familie haben regionale Wahlausschüsse 108 neue Parlamentsmitglieder bestimmt. Die Wahlausschüsse hatte ein nationales Komitee abgesegnet, dessen 11 Mitglieder wiederum von Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa ernannt wurden. Al-Scharaa wird noch 70 weitere Abgeordnete direkt selbst auswählen. Die Macht bleibt damit weitestgehend in den Händen der Übergangsregierung und von Menschen, die gute Beziehungen zu ihr unterhalten.
Laut nationaler Wahlkommission bewarben sich 1.578 Kandidat*innen fürs Parlament. Nur 14 Prozent seien Frauen gewesen – es mangelte an Freiwilligen. Obwohl die Übergangsregierung eine Frauenquote von 20 Prozent angekündigt hatte, gingen nur 3 Prozent der Sitze an Frauen. 70 Prozent der Kandidat*innen mussten Akademiker*innen oder Technokrat*innen sein, die anderen 30 Prozent zumindest „namhafte Mitglieder“ ihrer Gemeinde. Gewonnen hat laut vorläufigen Ergebnissen eher politisch gemäßigtes Personal.
Zwar bleiben Hardliner weitestgehend draußen, doch in Aleppo, dem größten Wahlbezirk mit 14 Sitzen, gewannen Politiker, Beamte und religiöse Persönlichkeiten, die der ursprünglichen politischen Agenda der ehemaligen Miliz von al-Scharaa, Haiat Tahrir al-Scham (HTS) nahestehen.
Die Übergangsregierung wollte mit den Wahlen zeigen, dass sich der Staat im demokratischen Aufbau befindet. Doch die konservativ-islamisch geprägte Regierung ist höchst umstritten. Regierungstruppen waren an Massakern gegen Alawiten an der Küste und gegen Drusen im Süden beteiligt. Die kurdischen Regionen im Nordwesten sowie die mehrheitlich drusische Provinz Suweida im Süden durften nicht wählen. Ihre 32 Sitze bleiben leer. Syriens religiöse und ethnische Minderheiten kritisierten daher den Prozess zu Recht als undemokratisch. Von denjenigen, die teilnehmen durften und sich trotz Kritik dafür entschieden, schafften es nur wenige ins Parlament.
Die Abgeordneten haben nur ein Übergangsmandat
Im Bezirk Baniyas in Tartus, dem Ort einiger schlimmer Massaker im März, gewann ein alawitischer Kandidat. Die drei Sitze in Latakia gingen alle an sunnitische Kandidaten. Einer von ihnen, Jamal Mkaiss, versprach zumindest, „alle unterdrückten Menschen aller Konfessionen – Sunniten, Alawiten, Christen – zu verteidigen“.
Im Damaszener Jaramana konnten die drusischen und christlichen Kandidat*innen keinen Sitz erringen. Marwan Zaghib, ein christlicher Kandidat in Jaramana, sagte der Nachrichtenagentur AP, er hoffe, dass al-Scharaa die verbleibenden Sitze so besetzt, dass „eine echte Beteiligung aller Teile unseres Volkes“ gewährleistet sei.
Afrin im Nordwesten entsendet drei kurdische Abgeordnete, die Mitglieder oder Verbündete des Kurdischen Nationalrats sind, der sich für Autonomie einsetzt. Das Gebiet wurde 2018 von der Türkei und verbündeten syrischen Oppositionskämpfern besetzt, Tausende kurdische Zivilist*innen wurden gewaltsam vertrieben.
Ins Parlament ziehen nun ein ehemaliger Lehrer, ein ehemaliges Mitglied des Gemeinderats und die Ärztin Rankin Abdo ein. Sie hatte trotz aller Kritik an der Übergangsregierung und dem Verfahren kandidiert, um die Lebensbedingungen der Kurd*innen zu verbessern. „Ein Boykott der Entscheidungszentren und der Regierung bringt keine Ergebnisse“, sagte sie der Nachrichtenagentur AP.
Die Wahlen verdeutlichten die Widersprüche der Übergangsphase in Syrien, sagt Sophie Bischoff von der Organisation Adopt a Revolution der taz. „Es gibt weder ein Wahlgesetz noch eine Einigung mit allen Landesteilen. Und doch konnten vielerorts Menschen erstmals überhaupt abstimmen – unter schwierigen, teils intransparenten Bedingungen.“
Es sei ein Hoffnungsschimmer, dass nun auch Vertreter*innen der Revolutionsbewegung von 2011 ins Parlament einziehen. „Auch wenn offen bleibt, ob al-Scharaa sein Ernennungsrecht für eine angemessene Repräsentation der Bevölkerung oder Loyalitäten nutzen wird.“
Laut offiziellen Stellen sei eine Wahl direkt durch die Bürger*innen nicht möglich gewesen, weil „zuverlässige Volkszählungsdaten“ fehlten. Noch gibt es auch keine legal arbeitenden politischen Parteien. Ihr Mandat haben die Parlamentarier*innen nur übergangsweise inne: für zweieinhalb Jahre. In dieser Zeit sollen sie ein neues Wahlgesetz ausarbeiten und die Grundlagen für eine spätere Volksabstimmung schaffen.
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