Nach der Abstimmung im Bundestag: Kein neues Organ

Der Bundestag hat entschieden: Organspende geht weiter nur mit Zustimmung der Betroffenen. Warum Angela Ipach davon tief enttäuscht ist.

Angela Ipach im Bundestag

Angela Ipach hört der Debatte zur Organspende im Bundestag zu Foto: Christian Thiel

BERLIN taz | Am Ende sinkt Angela Ipach in die graue Bank der Zuschauertribüne über dem Plenarsaal des Bundestags, Tränen laufen über ihr Gesicht. „Krass“, sagt sie. „Echt krass.“

Es ist Donnerstag kurz nach Mittag und gerade hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki verkündet, dass bei der Organspende „alles so bleibt, wie es ist“: zu wenige Or­gan­spen­de­r*in­nen, also zu wenige Spenderorgane und zu viele Tote. So hat es der FDP-Politiker natürlich nicht formuliert, so aber sagt es Angela Ipach.

Damit meint die Geschäftsführerin des Vereins „Junge Helden“ in München, der Lobbyarbeit für die Organspende macht, das Abstimmungsergebnis der Abgeordneten zur Organspende: Ja zur Entscheidungslösung, Nein zur doppelten Widerspruchslösung.

Oder anders formuliert: Wer nach einem Hirntod ein Organ spenden will, muss ausdrücklich zustimmen. So steht es im gerade beschlossenen Gesetz, so hatte es eine Gruppe von Abgeordneten um die Grünen-Chefin Annalena Baerbock, Hilde Mattheis von der SPD und der Linken-Chefin Katja Kipping in ihrem Gesetzentwurf für eine sogenannte „erweiterte Zustimmungslösung“ formuliert. Weil es um eine Gewissensfrage ging, war die Fraktionsdisziplin aufgehoben.

Ipach, 35, ist eine schmale Frau mit aschblonden Haaren und einem zart geschminkten Gesicht. Sie ist von München extra nach Berlin gekommen, sie wollte persönlich dabei sein, wenn der Bundestag nach einer monatelangen Debatte über die Organspende entscheidet. Seit Jahren kämpft sie mit den „Jungen Helden“ dafür, dass das Weitergeben von Organen an Schwerkranke „normaler wird in unserem Land“.

Angela Ipach, Kämpferin für die Organspende

„Die Abstimmung ist ein Zeichen dafür, dass den Abgeordneten die Kranken scheißegal sind“

Das Motto des Vereins lautet „Ja, wir können Leben weitergeben“, dafür engagieren sich Promis wie der Schauspieler Jürgen Vogel und der TV-Moderator Joko Winterscheidt. Für die „Jungen Helden“ hat Ipach ihren Beruf als Betriebswirtin aufgegeben, dafür opfert sie einen Großteil ihrer Freizeit.

Sie hatte gehofft, dass nicht der Baerbock-Antrag gewinnt, sondern die „doppelte Widerspruchslösung“, der Gesetzentwurf von Abgeordneten um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, den Sozialexperten Matthias Birkwald von der Linkspartei. Sie fordern, dass alle Menschen potenzielle Or­gan­spen­de­r*in­nen sind, solange sie nicht ausdrücklich ihren Widerspruch erklärt haben.

432:200

Aber dann nennt Kubicki im Plenarsaal die Zahlen: „Für die Zustimmungslösung stimmten 432 Abgeordnete mit Ja, 200 stimmten mit Nein.“ Ipach wird blass, als sie das hört: „Dass es ein knappes Ergebnis werden könnte, habe ich geahnt. Aber dass es so hart kommt, damit habe ich nicht gerechnet.“ Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

Eigentlich hatte sie sich gefreut, mal wieder im Reichstagsgebäude zu sein. Zwei Stunden vorher hatte sie ihren Rollkoffer an der Garderobe abgegeben und gesagt: „Hach, es ist doch immer wieder ein ergreifendes Gefühl, hier zu sein.“ 2006, während der Fußballweltmeisterschaft, hat sie hier ein paar Wochen lang gearbeitet, ein Studi-Job. Sie hat Be­su­che­r*in­nen im Bundestag betreut. „Das war toll.“

Aber jetzt, nachdem klar ist, dass in Deutschland bei der Organspende fortan die „informierte Entscheidungslösung“ gilt, wirkt sie, als habe man ihr einen Teil ihres Lebens geraubt. Sie sagt: „Ich verstehe das nicht: Organspenden wollen die Menschen nehmen, aber selber spenden wollen sie nicht.“

Ipach weiß, was es bedeutet, auf ein Spenderorgan zu warten. Zu hoffen, dass bald eins kommt, am besten heute noch, vielleicht nächste Woche, spätestens nächsten Monat. Hauptsache bald, bevor es zu spät ist. Ihre Schwester Claudia war sieben Jahre alt, als Ärzte bei ihr die seltene Autoimmunkrankheit Sklerodermie diagnostizierten. „Als Kinder konnten wir fast alles machen“, sagt Ipach. Vorsichtig mussten trotzdem alle in der Familie sein.

Claudias Zustand verschlechterte sich langsam, Stück für Stück. Mit 18 hatte sie einen heftigen Schub, der ihre Atemfunktion so stark schwächte, dass sie dringend eine neue Lunge brauchte. Fortan bestimmte Angst den Alltag der Familie: Überlebt sie ohne neue Lunge das Wochenende? Den Frühling? Werden wir zusammen Weihnachten feiern?

Vier Jahre später bekam die Schwester ein Spenderorgan. Alles schien gut, zumindest: besser. Bis sie weitere vier Jahre später, im Juni 2011, an plötzlichem Herzversagen starb. Claudia war 30 damals, Angela Ipach 27.

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Daran muss sie heute denken. „Die Abstimmung ist ein Zeichen dafür, dass den Abgeordneten die Kranken scheißegal sind“, sagt sie. Sie deutet nach rechts, auf die andere Zuschauertribüne. Dort sitzt Marius Schäfer, ein junger, blasser Mann mit einem Mundschutz. „Er wäre heute nicht hier, hätte er keine Organspende erhalten“, sagt Ipach.

Vor sieben Jahren wurden dem heute 19-Jährigen Teile der Lungen seiner Eltern implantiert, das war die erste Lebendlungenspende, die es in Deutschland je gegeben hatte. „Was sagt man Eltern, deren schwerkranke Kinder kein neues Organ bekommen, weil es zu wenig Spender gibt?“, fragt Ipach. Sie erwartet keine Antwort.

Menschen mit kaputten Nieren: über 90.000

Mehr als 9.000 Menschen warten laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) derzeit auf ein Spenderorgan, eine Niere, eine Leber, ein Herz, einen Darm. Dazu kommen Pa­ti­en­t*in­nen, die ebenfalls ein neues Organ brauchen, aber nicht auf der Warteliste stehen. Die DSO spricht allein von über 90.000 Frauen und Männern mit kaputten Nieren, die regelmäßig auf Dialysen angewiesen sind.

Ex­per­t*in­nen geben an, dass etwa der Hälfte von ihnen geholfen werden kann, wenn sie schneller eine neue Niere transplantiert bekämen. Derzeit beträgt die Wartezeit für das Organ rund acht Jahre. „Das neue Gesetz wird daran nichts ändern“, sagt Ipach.

Sie kennt die beiden Gesetzentwürfe aus dem Effeff, sie weiß, wer die Au­to­r*in­nen sind, und kann die Zahlen zu Organspenden im Schlaf herbeten wie Christen das Vater­unser. Sie kennt auch alle Gegenargumente. Etwa jenes, dass Menschen zu „Ersatzteillagern“ gemacht würden. Ein „Totschlagargument“, findet Ipach. Der größte verbale GAU. „Damit wird Angst geschürt.“

Sie kennt auch harmlosere Sätze wie den der SPD-Abgeordneten Hilde Mattheis, einer Unterstützerin der Entscheidungslösung. „Es geht darum, Menschen nicht ihre Selbstbestimmung zu nehmen“, sagte Mattheis am Donnerstag in der Bundestagsdebatte. Ipach schüttelt den Kopf. Sie sagt: „Auch bei der Widerspruchslösung behält jeder Mensch seine Selbstbestimmung.“

Doppelte Widerspruchslösung

Sie erklärt es nochmal: Es heiße schließlich nicht umsonst doppelte Widerspruchslösung. Die beinhaltet den Widerspruch jeder und jedes Einzelnen und den Widerspruch durch die Angehörigen. Anders formuliert: Auch wenn jemand einer Organentnahme im Falle eines Hirntods zugestimmt hat, können die Angehörigen immer noch Nein sagen. Niemand würde „überredet“, schon gar nicht zur Organspende gezwungen.

Kann sie aber auch die verstehen, die ihre Organe grundsätzlich nicht spenden möchten? Menschen wie die FDP-Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus, die sagt, dass „der Staat aus einem Akt der Freiwilligkeit keinen Pflichtakt machen“ dürfe. „Ja, natürlich“, sagt Ipach: „Jeder hat das Recht Nein zu sagen.“ Und schiebt hinterher: „Auch durch die Widerspruchslösung wäre niemand zu einer Organspende gezwungen worden.“

Mehr Aufklärung wäre schon hilfreich, findet sie. Wenn sich die Menschen zu Lebzeiten zu einer Haltung durchringen müssten. Auch hier weiß sie, wovon sie spricht. Als ihre Schwester starb, wurde die Familie gefragt, ob der Leichnam obduziert werden könne, für die Wissenschaft. Die Familie war schockiert über diese Frage: Wie kann man uns in diesem Trauerzustand so etwas fragen?

„Heute ärgere ich mich darüber, dass wir das abgelehnt haben“, sagt Ipach: „Wären wir besser informiert gewesen, hätten wir einer Obduktion zugestimmt. Möglicherweise hätten Experten dabei wichtige Forschungsergebnisse für Kranke gewinnen können.“

Angela Ipach geht zur Garderobe. „Ich muss jetzt ganz schnell hier raus.“ Heute hat sie nicht nur viel an ihre Schwester Claudia gedacht, sondern auch an Eltern, deren Kinder vielleicht sterben, weil sie kein Spenderorgan bekommen. „Meine Erfahrung ist, dass in einer Spende auch ein großer Trost liegen kann: Mein Kind ist tot, dafür wird ein anderes gerettet.“

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