Nach der Untersuchung zu Utøya: „Sie haben uns im Stich gelassen“

Das Doppelattentat von Norwegen hätte verhindert werden können, ergab ein Untersuchungsbericht. Das stellt die Politik und Bevölkerung erneut auf die Probe.

Die Trauer, die Opfer, die Blumen... all das hätte verhindert werden können. Bild: dpa

STOCKHOLM taz | „Sie haben versagt. Sie haben uns im Stich gelassen.“ Ein Kommentar in der Osloer Tageszeitung VG brachte am Dienstag das Gefühl, das gestern in Norwegen herrschte, wohl am besten auf den Punkt. Das Gefühl am Tag nachdem eine Untersuchungskommission überzeugend und detailliert nachgewiesen hatte, dass es zu den norwegischen Terroranschlägen vom 22. Juli 2011 eigentlich nicht hätte kommen müssen – und dürfen. Nicht zur Bombenexplosion im Regierungsviertel, nicht zum Massaker auf Utøya. Dass 77 Menschen noch am Leben sein könnten, wenn nur alles wie vorgesehen funktioniert hätte.

„Die gesellschaftlichen Institutionen, die Land und Volk beschützen sollten, sie haben versagt“, so VG weiter: „Gibt es ein vernichtenderes Urteil?“

„Bewundernswert“ war ein Wort, das ausländische Beobachter oft verwendeten, um zu beschreiben, wie die Norweger und ihre Regierung auf die Taten des Terroristen Anders Breivik reagierten. Bewundernswert wie besonnen, wie frei von Hass, stattdessen mit der Botschaft der Versöhnung. Ohne den Ruf nach schärferen Gesetzen und mehr Überwachung, sondern mit dem Versprechen, den Terror mit mehr Offenheit und Demokratie zu beantworten.

Diese Haltung wird nun erneut auf die Probe gestellt. Denn die Bevölkerung war davon ausgegangen, dass der beste Schutz, den eine offene Gesellschaft bieten kann, in Norwegen vorhanden war – aber eben nicht ausgereicht hatte. In Norwegen ist die Überzeugung tief verankert, dass die Institutionen immer bemüht sind, ihr Bestmögliches für den Einzelnen zu tun.

Wie stolz man darauf ist, zu so einer Nation zu gehören, zeigt nicht nur die blau-rote Fahne, die an jedem Häuschen des Landes weht. „Es ist typisch norwegisch, gut zu sein“, verkündete Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland Anfang der 90er Jahre in ihrer Neujahrsansprache. „Wir müssen unser Norwegen bewahren, müssen die norwegischen Werte hochhalten“, sagte Regierungschef Jens Stoltenberg bei der Gedenkfeier zum Jahrestag der Anschläge vor drei Wochen.

Ein wohl bekannte gefährliche Stelle

Und nun die vernichtende Kritik an den Institutionen, denen man vertraut hatte. Die es in sieben Jahren nicht schafften, wie beschlossen eine zentrale Straße im Regierungszentrum für unkontrollierten Autoverkehr zu sperren, sodass exakt an der Stelle, die Sicherheitsexperten schon lange als die gefährlichste beschrieben, der Terrorist sein sprengstoffbepacktes Auto ungehindert parken konnte. „Wie können Ambitionen und das, was man dann umsetzt, bloß so fundamental auseinanderfallen?“, fragte die linke Tageszeitung Klassekampen.

Es gehe, so betonte das Blatt, nicht um den Ruf nach einem Polizeistaat, wie ihn ein rechtes Blog bereits fordert, sondern einfach darum, dass Schluss sein müsse mit dem „Mangel an Führungsverantwortung auf allen Ebenen“. Viele waren sich der Schwächen bewusst, die es gab: Bei Terrorübungen wurden immer wieder Fehler entdeckt und dokumentiert. Doch es geschah nichts.

Es könnte sein, dass der für sein Krisenmanagement gelobte Regierungschef Stoltenberg nun als oberster politischer Verantwortlicher seinen Hut nehmen muss. Und dann? Sollte sich Norwegen fragen, was jenseits von Schlamperei noch falsch gelaufen ist. Schuld an den Morden hat allein der Täter.

Doch der wurde sozialisiert in einer auch von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie geprägten Umgebung und Politik, so die Webpublikation Dagens Arena: Nur wenn sich Norwegen dessen bewusst werde und daraus Lehren ziehe, habe es aus dem 22. Juli wirklich etwas gelernt.

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