Nach neuer Gewalt in Gaza: Hält die Waffenruhe?
Die vereinbarte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas weckte Hoffnung, am Sonntag eskalierte die Lage wieder. Wie geht es nun weiter? Ein Q & A.

dpa | Nach den schwersten Luftangriffen Israels seit Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen als Reaktion auf Beschuss seiner Soldaten bemühen sich die regionalen Mächte um Sicherung des fragilen Abkommens. Israel und die islamistische Hamas gaben beide Erklärungen ab, dass sie sich zur Waffenruhe bekennen – nachdem sie der Gegenseite jeweils Verstöße vorgeworfen hatten. Die Angriffe waren die erste große Krise seit der Einigung auf das mühsam ausgehandelte Abkommen.
Die Hamas teilte mit, ihre Unterhändler seien nun zu Gesprächen über die weitere Umsetzung des Abkommens in Ägypten eingetroffen. Derweil werden die US-Unterhändler Steve Witkoff und Jared Kushner heute in Israel erwartet. Morgen soll laut Medien auch US-Vizepräsident JD Vance eintreffen. Auf Nachfrage von Reportern wollte sich Vance aber nicht festlegen, ob er kommt. Neben den USA vermitteln auch Ägypten, Katar und die Türkei in dem Konflikt.
Wie kam es zur neuen Gewalt?
Israels Luftwaffe hat am Sonntag verschiedene Gebiete des abgeriegelten Küstenstreifens bombardiert. Insgesamt wurden dabei nach Angaben mehrerer Krankenhäuser 44 Palästinenser getötet. Nach Angaben der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa waren unter den Toten auch ein Journalist und ein Kind. Nach israelischen Angaben habe die Armee auf Stellungen der Hamas gezielt.
Laut der israelischen Armee waren ihre Truppen am Sonntag im Süden des Gazastreifens in einem vom Militär kontrollierten Gebiet unter anderem mit einer Panzerfaust angegriffen worden. Zwei Soldaten seien getötet, ein weiterer schwer verletzt worden. Zudem habe es weitere Versuche gegeben, israelische Soldaten anzugreifen. Die Kassam-Brigaden – der militärische Arm der Hamas – wiesen jegliche Verantwortung für die Angriffe auf israelische Soldaten zurück.
Was wird aus den Hilfslieferungen für Gaza?
Sie wurden wieder ausgesetzt. Israels Regierung stoppte die Lieferung humanitärer Hilfsgüter in den Gazastreifen vorerst wieder, hieß es aus Sicherheitskreisen. Nach Inkrafttreten der Waffenruhe am 10. Oktober waren die Hilfslieferungen als Teil der Vereinbarung ausgeweitet worden. Das Ziel von notwendigen 600 Lkw-Lieferungen am Tag wurde bisher aber nicht wieder erreicht.
Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu teilte am Sonntag zudem mit, dass der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten bis auf weiteres für den Personenverkehr geschlossen bleibe. Die Öffnung hänge davon ab, ob die Hamas ihre Verpflichtungen gemäß Abkommen erfüllt.
Was ist mit den restlichen Geisel-Leichen?
Noch befinden sich die sterblichen Überreste von 16 Entführten im Gazastreifen. Die Hamas verweist darauf, dass es für sie schwierig sei, die Leichen zu finden, weil sie unter den Trümmern bombardierter Gebäude und Tunnel verschüttet seien. Netanjahus Regierung wirft der Hamas vor, die Rückführung der Leichen von Geiseln aus Israel zu verzögern.
Die Kassam-Brigaden teilten mit, die Leiche einer weiteren Geisel sei nun gefunden worden. Sie warnten, neue Angriffe Israels könnten die Bemühungen gefährden, weitere sterbliche Überreste zu bergen.
Was wird aus dem Friedensplan?
Die Hamas hatte vor genau einer Woche ihre letzten 20 lebenden Geiseln ausgehändigt – im Gegenzug ließ Israel fast 2000 palästinensische Gefangene und Häftlinge frei und zog seine Armee aus Teilen des Gazastreifens zurück. Damit wurden zumindest diese Vereinbarungen über die erste Phase des Abkommens umgesetzt.
Doch die Lage ist nach wie vor fragil - wie die Angriffe vom Sonntag zeigen. Nicht absehbar ist, ob das Abkommen zu einem längerfristigen Ende der Kämpfe im Gazastreifen führen wird. Drei der größten Streitpunkte bleiben die Entwaffnung der Hamas, der komplette Abzug der israelischen Armee aus Gaza und die Zukunft des großflächig zerstörten Küstengebiets.
Dass Vizepräsident Vance in dieser Woche nach Israel kommen wolle, sei ein Signal der US-Regierung, dass sie eine möglichst schnelle und vollständige Umsetzung des Abkommens anstrebe, zitierte die US-Nachrichtenseite „Axios“ israelische Beamte. Offiziell bestätigt ist der Besuch allerdings bislang nicht.
Welche Macht hat die Hamas noch?
Erste Gespräche über die zweite Phase des Abkommens haben bereits begonnen. Die Hamas lehnt ihre darin geforderte Entwaffnung aber ab. Seit dem teilweisen Rückzug Israels aus Gaza geht die Hamas laut Berichten gegen rivalisierende Milizen vor. Dabei sei es zu Gefechten und Hinrichtungen gekommen.
Demnach versucht die im Gaza-Krieg geschwächte Hamas, das Machtvakuum in Teilen des Gebiets zu nutzen und dort die Kontrolle wiederzuerlangen. Den vom US-Außenministerium erhobenen Vorwurf, sie habe einen Angriff auf palästinensische Zivilisten geplant, wies die Hamas indes zurück. Das seien „haltlose Behauptungen“ im Einklang mit israelischer Propaganda.
Das Wall Street Journal hatte vor einem Monat israelische und arabische Beamte zitiert, wonach die Hamas schätzungsweise weiter über Zehntausende Kämpfer in ihren Reihen verfüge. Dabei handele es sich jedoch vielfach um neue Rekruten mit wenig Ausbildung. Die Hamas gelobte gerade erst die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes gegen Israel, auch wenn die Kassam-Brigaden am Sonntag verlauten ließen: „Wir bekräftigen unsere vollständige Verpflichtung, alles umzusetzen, was vereinbart wurde.“ Dies gelte vor allem für die Waffenruhe in allen Gebieten des Gazastreifens, hieß es.
Wie geht es nun weiter?
Neben dem Versuch, die Hamas zur Rückgabe weiterer Leichen zu bewegen, arbeitet das Weiße Haus laut Axios weiter an der Bildung einer internationalen Friedenstruppe (ISF). Gemäß dem 20-Punkte-Plan von US-Präsident Donald Trump soll sie zur Beendigung des Krieges in Teilen des Gazastreifens stationiert werden und einen weiteren Rückzug der israelischen Armee ermöglichen.
Israel kontrolliert weiterhin gut die Hälfte des Gebiets. Dort, wo die Hamas keine Kontrolle mehr ausübt, wollten die USA mit dem Wiederaufbauprozess des von Trümmerlandschaften geprägten Gazastreifens beginnen, hieß es in dem Axios-Bericht. Das betreffe insbesondere die Stadt Rafah im Süden des Küstengebiets.
Der US-Unterhändler Kushner sagte dem US-Fernsehsender CBS, Israel müsse anfangen, den Palästinensern zu helfen und ihre Lebensqualität zu verbessern. „Die wichtigste Botschaft, die wir der israelischen Führung derzeit zu vermitteln versuchen, ist, dass man jetzt, da der Krieg vorbei ist, einen Weg finden muss, dass das palästinensische Volk gedeiht und es ihm besser geht, wenn man Israel in den Nahen Osten integrieren will.“
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