Nachahmung im Tierreich: Magische Praktiken

Viel Aufwand für die Schönheit: Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie der Mimikry als tierisches Pendant zur Mode.

Auf einem grünen Blatt sitzt eine Laubheuschrecke, als altes Blatt getarnt

Eine Laubheuschrecke aus dem Regenwald im Amazonas Foto: Imago/Blickwinkel

Kennen Tiere so etwas wie Mode? Der Basler Zoologe Adolf Portmann hat gegenüber dem Nützlichkeitspostulat der meisten Biologen bei der Mimikry/Mimese auf einer zweckfreien „Selbstdarstellung“ bestanden: Zum Beispiel, wenn eine ungiftige Schlange farblich einer giftigen zum Verwechseln ähnlich sieht oder bei den Scheinaugen eines Schmetterlings und sogar bei den Blüten von Pflanzen.

Der Kulturwissenschaftler Peter Berz erwähnt in diesem Zusammenhang neben Portmann den Soziologen Roger Caillois und den Entomologen Paul Joseph Victor Vignon. Letzterer hat sich mit Laubschrecken befasst, die Blätter imitieren, ihre Deckflügel ahmen jedoch nicht intakte Blätter nach, sondern solche im Zustand der Zersetzung.

„Aber für welchen Adressaten mit welch scharfen Sinnen ist diese Perfektion?“, fragt sich Berz. „Handelt es sich überhaupt um Nachahmung? Im Unterschied zur morphologischen Ritualisierung der Verhaltensbiologie löst sich gerade in der scheinbar exzessivsten Nachahmung die Nachahmungsfunktion als solche auf, das heißt: der Bezug von Vorbild und Nachahmer. Am Ende steht der Überschuss einer eigenständigen ‚künstlerischen‘, ja theatralischen Formproduktion.“

Produziert die Natur also Kunst?

Roger Caillois hat dieses „Künstlertum“ in seiner Theorie der Mimikry in eine „allgemeine Theorie“ weitergedacht. Es ist, als ob die Natur Ähnlichkeiten ungeachtet des Aufwands und der Nützlichkeit herzustellen „versucht“. Produziert die Natur also Kunst?

Caillois hat die Mimikry sowie die ihr verwandte Mimese in seinem Buch „Méduse & Cie“ (2007) explizit als ästhetische Praxis begriffen: So versteht er zum Beispiel die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der sogenannten Primitiven. Und die Mimese überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode.

Für den Kuppelmantel wählt die Lehmwespe sorgfältig kleine Steinchen aus, gerne aus Quarz

„Es gibt nur eine Natur“ – soll heißen: dass die Formen und Verhaltensweisen sogar der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen. Das wäre der Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination.

Besonders schöne Steinchen

Der wohl bedeutendste Insektenforscher, der französische Nobelpreisträger Jean-Henri Fabre, lehnt zwar alle „Mimikry/Mimese-Theorien ab, spricht aber ähnlich wie Caillois von einer „Insektenästhetik“. Damit meint er keine Nachahmung, sondern eigenständige künstlerische Werke, die er mit den buntbemalten Zweigpavillons und den mosaikausgelegten Balzplätzen der australischen Laubenvögel vergleicht: „Ich glaube zumindest bei der Lehmwespe die Neigung zu erkennen, ihr Werk zu verschönern.“

Gemeint sind die vom Lehmwespen-Weibchen gebauten Nester in Form kleiner Amphoren, „wie von einer Töpferscheibe“, in denen sie jeweils bis zu sieben Zellen für ihre Eier einrichten. „Die Kuppel der Lehmwespe ist die Arbeit eines Künstlers,“ schreibt er (in: „Erinnerungen eines Insektenforschers“, Band II). Für den Kuppelmantel wählt sie sorgfältig kleine Steinchen aus: „Wenn sie welche aus durchscheinendem Quarz sieht, lässt sie alles andere liegen.“ Und in der Wölbung zementiert sie „sonngebleichte Schneckenhäuschen“. „Wozu diese Feinheiten?“, fragt er sich. Für die Festigkeit des Werkes und den Schutz ihrer Eier beziehungsweise der heranwachsenden Larven vor Feinden und Unwetter sind sie überflüssig, obendrein würde sie ohne diesen Gebäudeschmuck schneller fertig werden.

Für die Mimikry/Mimese berühmt sind vor allem die Schwebfliegen. Viele Arten haben ein hummel-, wespen-, hornissen- oder bienenähnliches Aussehen – „angenommen“, sagen die Insektenforscher. Als Darwinisten gehen sie dabei stets von der Nützlichkeit aus – und die besteht bei der Mimikry meist darin, dass ein harmloses Tier sich einem wehrhaften aus einer ganz anderen Art in Form, Farbe, Geräusch etc. angleicht. Das ist so einleuchtend, dass Woody Allen darüber einen seiner schönsten Filme gemacht hat: „Zelig“.

Nachahmung als Mittel der Verständigung

Der Tierfilmer Horst Stern erwähnt in seinem Buch „Tiere und Landschaften“ (1973) einen weiteren Mimikry-„Trick“ der Schwebfliegen: Sie imitieren auch die großen Fühler der Wespen, indem „sie bei Gefahr die Vorderbeine an den Kopf heben, mit ihnen wie mit Fühlern zittern und sie auch ein wenig geknickt halten“.

Der holländischen Philosophin Eva Meijer geht es bei diesem Thema um etwas ganz anderes. Für sie „unterstreicht Mimikry die Verbundenheit: Indem sie einander nachahmen, verstehen sich Menschen besser.“ Als Beispiel erwähnt sie (in: „Die Sprachen der Tiere“ 2018) das Sichähnlichwerden von Herr und Hund, „obwohl die Formen von Gesicht und Körper unterschiedlicher kaum sein könnten“.

In ihrem Hauptwerk „Tausend Plateaus“ (1993) haben die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari postuliert: „Nachahmung ist die Ausbreitung einer Strömung“. Das gilt sowohl für soziale Bewegungen als auch für Modetrends – sofern sie sich wirklich ausbreiten und nicht nur medial behauptet werden. Man denke nur an das jüngst epidemisch gewordene Tätowieren, Piercen und Nazifrisurschneiden.

Julie mit dem Grashalm

Holländische Primatologen berichteten aus einem Affenreservat in Simbabwe, dass die Schimpansin Julie 2007 anfing, mit einem Grashalm hinterm Ohr herumzulaufen, woraufhin es ihr immer mehr Schimpansen in ihrer unmittelbaren Umgebung und dann auch darüber hinaus nachtaten. Laut Eva Meijer war dies „das erste nachweisliche Beispiel einer Mode“ bei Tieren. Als Julie 2013 starb, ebbte sie ab, einige Schimpansen hängen ihr aber noch immer an.

Bei Julie handelte es sich um einen typischen „style-leader“, vergleichbar etwa dem Fernsehstar Sue Ellen aus der Fernsehserie „Dallas“, deren Frisur von Zigmillionen Frauen nachgeahmt (kopiert) wurde: eine fast globale Mimikry.

„Bis heute war Sue Ellen die interessanteste Figur im Fernsehen der 80er Jahre. Viele Menschen haben sich mit ihr identifizieren können“, schreibt das Münchner Mimese-Journal Bunte, das wesentlich mit dazu beitrug, die „Sue-Ellen-Frisur“ auch hierzulande durchzusetzen. Von Freunden aus Ägypten weiß ich, dass die TV-Serie dort als eine Art Wohnungseinrichtungskatalog geschätzt wurde.

Das die Bunte kopierende Produkt aus Hamburg, Gala, kam erst 1994, drei Jahre nach Ende der Dallas-Serie, auf den Markt, weswegen ihrer Modeberaterin auch ein Fehler unterlief, als sie jetzt auf „gala.de“ ein „Must-have“ mit den Worten anpries: „In diesem Kleid fühle ich mich ein wenig wie Sue Ellen aus dem ‚Denver Clan‘.“ Dabei hatten ihre Eltern sie sogar nach dem „Dallas“-Star Sue benannt: Sue Giers heißt sie.

Trotz des psychoanalytisch vielleicht bedeutsamen Flüchtigkeitsfehlers handelt es sich bei ihr anscheinend um eine generationenübergreifende Mimikry – aus interesselosem Wohlgefallen, wie es Kant in seiner Analytik des Schönen genannt hat.

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