Nationalpark Wattenmeer: Das Land den Gänsen

Das Zusammenspiel von Naturschutz und EU-Agrarpolitik hat in Friesland zu einer Renaturierung großer Flächen Kulturlands geführt.

Ein Schwarm von Ringelgänsen auf der im Nationalpark Wattenmeer liegenden Nordseeinsel Föhr. Bild: dpa

HALLIG HOOGE taz | Das Stück wird immer noch gespielt. Es handelt vom Kampf um Land, von der Rückeroberung des Landes durch die Natur, von Bauern und Gänsen. Man kann es sich anschauen, auch an diesem Wintertag, an dem sich der Nationalpark Wattenmeer in Nordfriesland ganz in Grau zeigt. Seit den Achtzigerjahren wird hier ein Kampf zwischen Ökonomie und Ökologie ausgefochten. Auf der einen Seite stehen die Bauern und das von ihnen einst durch Eindeichung geschaffene Ackerland, auf der anderen die Ringelgänse bzw. ihre Sprecher, Biologen und Umweltschützer.

Ringelgansmanagement

"Die Grünen sind schlimmer als die Gutsherren einst", schimpften friesische Bauern schon vor Jahren, während das Bundesamt für Naturschutz stolz bekannt gibt, dass sich die Ringelgänse in den "Schutzgebieten" bereits auf eine andere Nahrung umgestellt hätten. Sie nutzten die landwirtschaftlichen Kulturen im Küstenbereich sowie die Salzwiesen und hätten "dadurch im Winterquartier und auf dem energiezehrenden Heimzug in die Brutreviere eine bessere Ernährungsgrundlage".

Die Ringelgänse machen hier im Watt bloß kurz Station auf ihren Flügen zwischen der französischen Atlantikküste und Sibirien. Im Mai, wenn sich allein auf der Hallig Hooge 20.000 Gänse aufhalten, werden hier die "Ringelganstage" veranstaltet und die "Goldene Ringelgansfeder" wird an Menschen verliehen, "die sich besonders um den Nationalpark verdient gemacht haben", wie Besucher des "Info-Pavillons" erfahren.

Der jahrzehntelange Kampf zwischen Kultur und Natur, zwischen Bauern und Biologen habe Wunden hinterlassen, sich am Ende jedoch gelohnt, schreibt der Ethnologe Werner Krauß in seinem Bericht "Die Goldene Ringelgansfeder". Dazu zitiert er einen der Biologen: "Als die Bauern die Ringelgänse noch bejagten und zu vertreiben versuchten, hatten sie eine wesentlich höhere Fluchtdistanz", hätten also deutlich größeren Abstand zu Menschen gewahrt.

Heute wird das verbliebene Kulturland vom renaturierten Land durch eine weiß-rote Schranke abgetrennt: "In dieser Schranke steckt die ganze Vermittlungsarbeit." Die Bauern bekommen für den "Wildschaden" eine Kompensation aus einem speziellen "Hallig-Entschädigungsprogramm" der EU.

Den Schutz der Ringelgänse hält Krauß für eine "Erfolgsstory des Naturschutzes." Ihr Bestand hat sich erholt: Von 20.000 Mitte der Fünfzigerjahre auf inzwischen 280.000. Es wurde mit den Staaten auf ihrer Zugroute ein "Ringelgansmanagementplan" verabschiedet.

Wesentlich pessimistischer sieht der holländische Agrarforscher Frank Westerman diesen zivilisatorischen Rückbau. Seine Recherchen unternahm er am Dollart, der Meeresbucht zwischen dem niederländischen West- und dem deutschen Ostfriesland, wo es nicht um den Lebensraum von Ringelgänsen, sondern von Säbelschnäblern ging. Im Jahr 2002, so jubelt der "Watten-Rat" auf deutscher Seite, hätte der Vogel in diesem Gebiet bereits "internationale Bedeutung" erreicht. Frank Westerman hingegen schreibt: "Ende der Neunzigerjahre lagen hier tausende von Hektar brach: Der Getreideanbau lag in den letzten Zügen und schien ein willenloses Opfer der Landschaftsplaner mit ihren Riesenbudgets."

Die Verwaltung des "Naturschutzgebietes" in der Ostgroninger Region Oldambt ließ das Land "vogelfreundlich" anlegen und errichtete für die Menschen "Vogelbeobachtungspunkte". Westerman schreibt: "Vom Deich aus sah ich hunderte von Säbelschnäblerpaaren mit ihren Jungen am Ufer des Wattenpriels herumlaufen, dort, wo in den Achtzigerjahren noch Raps gestanden hatte."

Der Untergang des Dorfes

Etwa 80 Kilometer westlich in Richtung Ijsselmeer liegt der westfriesische Ort Jorwerd, an dem der holländische Autor Geert Mak den "Untergang des Dorfes in Europa" festgemacht hat.

Um die Jahrhundertwende wohnten ungefähr 650 Menschen in Jorwerd, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 420, 1995 nur noch 330, wobei die meisten in der Stadt arbeiteten. 1956 schloss das Postamt, 1959 gab der letzte Schuster auf, der Hafen wurde zugeschüttet, die Bäckerei schloss 1970, zwei Jahre später wurde die Buslinie stillgelegt, 1974 gab der letzte Binnenschiffer auf, der Fleischer schloss seinen Laden 1975, der Schmied gab 1986 auf und 1988 machte der letzte Lebensmittelladen dicht, 1994 wurde schließlich die Kirche einer Stiftung für Denkmalschutz übergeben.

An diesem grauen Wintertag ist nicht einmal mehr die Dorfkneipe "Het Wapen van Baarderadeel" geöffnet. Geert Mak meint: "Mit der Landwirtschaft wich die Stabilität nicht nur aus der dörflichen Wirtschaft, sondern aus dem gesamten sozialen Leben des Dorfes." Die Landwirtschaft wiederum habe man sukzessive mit den EU-Subventionen zur Förderung konkurrenzfähiger Agrarbetriebe aus den Dörfern vertrieben.

Dafür wurden "Naturpläne" aufgestellt: "Manche Grundstücke wurden zu Biosphärenreservaten erklärt - und der Bauer erhielt eine Kompensation." Es wurden sogar Planierraupen eingesetzt, um den fruchtbaren Ackerboden zu entfernen und das Terrain wieder künstlich karg zu machen. Dazu wurde "ein Projekt nach dem anderen konzipiert - ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander". Feriendörfer, Yachthäfen, Transrapid - es wimmelte von Masterplänen.

Frank Westerman hatte sich auf drei Dörfer im Oldambt konzentriert - dem einstigen "Getreideparadies", in dem es früher viele Landarbeiter gab und in dem noch 1994 über 50 Prozent der Wähler für die Kommunisten stimmten. Man nennt diese Ostgroninger Gegend deswegen "das rote Dreieck". Von hier stammte auch der einstige Herrenbauer und Sozialist Sicco Mansholt - der erste und wichtigste Landwirtschaftskommissar der EU, damals noch EWG.

Der "Kulturlandgewinner" Mansholt entwarf das Agrarsubventionsmodell, das ungeachtet der zahlreichen Modifizierungen heute noch gültig ist. Und er war es auch, der sich zuletzt für "Kulturlandvernichtung" - die Renaturierung, sogar Flutung von Ackerland einsetzte und an "Stilllegungsprämien" dachte. Das war, nachdem er in Brüssel die Grünen-Politikerin Petra Kelly kennengelernt und sich in sie verliebt hatte, wie Frank Westerman berichtet.

Neben der "grünen Front" hat der Schriftsteller nun auch noch eine "blaue Front" am Dollart ausgemacht hat, die die Landwirtschaft nun quasi von beiden Seiten in die Zange nehmen. Mit der "blauen Front" sind die Wasserwirtschaftsverbände gemeint, die bereits eingedenk der Klimaerwärmung daran gehen, aus der niederländischen Küste eine "Sonderzone" zu machen, um "auf dem Land Raum für das Meer zu schaffen".

Andererseits sind jenseits aller "grünen" und "blauen Projekte" die weltweiten Getreidepreise enorm gestiegen, weshalb Westerman einen Oldambter Bauern zitiert, der von einem Versprechen der zuständigen Behörden berichtet: "Auf guten landwirtschaftlichen Böden soll keine Natur mehr angelegt werden."

Andere Subventionen

Vielleicht kommt es noch so weit, dass die EU sogar Fördermittel für Existenzgründungen von Kleinbauern auflegt. Wie schon Marx und Engels war auch Sicco Mansholt davon überzeugt gewesen, dass der kleinbäuerliche Familienbetrieb keine Zukunft hat und diese vielmehr der industriellen Großlandwirtschaft gehört.

Sein bekanntester Gegenspieler war und ist der ostfriesische Bauer Onno Poppinga - aus Upgant auf der anderen Seite des Dollart. Seit den Siebzigerjahren kritisiert er schon die EU-Agrarpolitik. Er bekam dafür eine Landwirtschaftsprofessur an der Universität Kassel. Als er dort 2008 emeritiert wurde und fortan wieder Pferde züchten wollte, widmete ihm die taz ein Porträt, in dem der Europaabgeordnete Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf und Grünen-Politiker über Poppinga sagte: "Er hat die herrschende Agrarpolitik immer aus einer linken Perspektive heraus kritisiert."

Poppinga wird sich mit seiner Zeitung Unabhängige Bauernstimme auch weiterhin für eine Agrarsubventionspolitik einsetzen, die den bäuerlichen Familienbetrieb stützt und nicht auslöscht - zugunsten industrieller Großagrarbetriebe, die den Gegensatz von Kulturland und Natur verschärfen: Gegenüber der staatlichen Agrarpolitik und der wissenschaftlichen Agrarökonomie, denen es bisher immer um die Abwanderung von Arbeitskräften ging, plädiert Poppinga für eine "Bindung der staatlichen Zahlungen an die landwirtschaftliche Arbeit", um beispielsweise die "landwirtschaftliche Wertschöpfung" zu erhöhen - durch "regionale Erzeugung, sorgfältige Einzeltierbetreuung und Minderung von Massenarbeitslosigkeit".

Das wäre dann aber ein ganz anderes Lehrstück, obzwar immer noch eins über politische Ökologie.

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