Netflix schaltet Werbung: Der Kaiserin neue Kleider

Nach großen Aboverlusten erholt sich Netflix. Der Streamingdienst nutzt den Moment, um Erfolg für sich neu zu definieren.

ein Mann mit Uniform und eine Frau mit Hut stehen an einen Baum gelehnt

Netflix' Sisi besticht mit fast so eleganten Seitenhieben wie der Streaming-Anbieter selbst Foto: Thomas Schenk/Netflix

In den Köpfen ist Netflix immer noch die originale Streamingplattform. Was Zewa bei den saugfähigen Küchenpapierrollen, ist Netflix im Bereich Video on Demand. So weit jedenfalls die kulturelle Wahrnehmung, denn wirtschaftlich ist es so einfach schon lange nicht mehr.

Netflix mag einst die Pionierin eines komplett neuen Unterhaltungsmediums gewesen sein. Aber Pionierin sein wird einem nicht gedankt, wenn die große Konkurrenz, die eben noch tollpatschig hinterhergestolpert ist, einen plötzlich aus dem Weg kickt.

Längst sind großen Medienkonzerne wie Disney, Apple und Amazon ins Geschäft eingestiegen. Bei Netflix unterdessen stagnierte das Abowachstum – in den ersten zwei Quartalen dieses Jahres gingen die Abos sogar zurück. Für viele in der wachstumsverwöhnten Streamingbranche eine Katas­trophennachricht. Netflix verlor zwischenzeitlich beinahe eine Million Abonnent*innen, während Disney+ scheinbar ohne Anstrengung vierzehneinhalb Millionen dazugewann.

Nun hat sich Netflix mit den aktuellen Quartalszahlen offenbar ein wenig erholt. Und nutzt den Moment für eine Message an die Aktionär*innen. Inklusive Diss an die Konkurrenz.

Elegante Seitenhiebe

Von Juli bis September sind bei Netflix 2,4 Millionen neue Bezahlabos dazugekommen, wie Netflix am Dienstag mitteilte. Das entspricht einem Kundenzuwachs von 4,5 Prozent – und das wiederum liegt mehr als doppelt so hoch wie die eigene Prognose. Dabei dürfte die lang erwartete vierte Staffel der Mysteryserie „Stranger Things“ eine Rolle gespielt haben sowie die kürzliche erschienene True-Crime-Serie „Dahmer“. Netflix zählt weltweit gut 223 Millionen Nutzerkonten.

„Gott sei Dank haben wir die Quartale mit Rückgängen hinter uns“, schreibt Chef Reed Hastings in einem Brief an die Aktionär*innen. „Wir glauben, dass wir auf dem Weg sind, das Wachstum wieder zu beschleunigen.“ Das klingt allerdings nach Gottvertrauen und Glaube und nicht gerade nach etwas, auf das man als In­ves­to­r*in setzen kann. Also schickte Hastings eine zweite Botschaft hinterher.

„Unsere Wettbewerber investieren kräftig, um ihr Abonnenten-Wachstum und -Engagement anzutreiben. Doch ein großes und erfolgreiches Strea­ming-Geschäft aufzubauen, ist hart – unserer Einschätzung nach verlieren sie Geld.“ Ein eleganterer Seitenhieb hätten selbst Sisi und ihren Hofdamen in Netflix’ aktuellem Hit „Die Kaiserin“ nicht einfallen können.

Wie eine gut geölte Nähmaschine

Netflix sieht einer realistischen Möglichkeit entgegen: dass sein Markt demnächst ausgeschöpft sein könnte. Bei neuen Märkten, gerade im Netz- und Tech-Bereich, setzt schnell ein Gewöhnungseffekt ein: Stetiges Wachstum wird erwartet. Dennoch kommt irgendwann auch jede Innovation an ihre Grenzen. Netflix versucht, den Moment für sich erzählerisch zu wenden: Wir sind das etablierte Produkt, die gut geölte Nähmaschine. Wir machen Gewinn, und das ist wichtiger als Wachstum. Oder etwa nicht?

Sympathisch ist das. Wer braucht ein Produkt, das immer weiterwächst, wenn es doch tut, was es soll? Jedenfalls aus Sicht der Kulturkritik. Net­flix liefert in verlässlicher Regelmäßigkeit innovative Produkte, die das Fernsehen, die dort verhandelten Themen und die Art des Erzählens an sich herausfordern: „Squid Game“ und „Bridgerton“ ebenso wie „Heartstopper“ und „Sense8“. Oder Produkte, die zwar nicht gerade etwas Neues erfinden, aber in Sachen Produktionsqualität und Liebe zum Detail vorbildhaft sind: „The Crown“, „Die Kaiserin“ oder „Sandman“. Und nicht zu vergessen, die kontroversen popkulturellen Momente: „13 Reasons Why“ zum Beispiel, „Tiger King“ oder „Emily in Paris“. Netflix holt die Preise, über Netflix wird geredet, Netflix ist the Moment. Ist es da nicht egal, wie es wächst?

Ist es leider nicht. Netflix mag sich in diesem Quartal „Gott sei Dank“ ein wenig erholt haben, aber es befindet sich an einer Sollbruchstelle. Wenn Netflix das Vertrauen der An­le­ge­r*in­nen durch Profit wiedererlangen will, muss es diesen sichern.

Im November startet deshalb ein Billig-Aboangebot mit Werbung. Im kommenden Jahr soll es zudem schwieriger werden, Accounts mit anderen auf unbegrenzt vielen Geräten zu teilen. Beides könnte den Charakter des Angebots verändern. Netflix als von Werbung ungestörtes Unterhaltungserlebnis wird verwässert. Teilbarkeit, also auch Austausch, wird erschwert. Nut­ze­r*in­nen dürften diese Nachteile verzeihen, aber nur wenn die großen popkulturellen Momente weiterhin regelmäßig stattfinden. Der Rest des Angebots ist bekanntermaßen mittelmäßig bis Schrott. Klassiker findet man sowieso selten, die liegen bei der Konkurrenz.

Dass Netflix offenbar nur dann stabil ist, wenn es von sich reden macht, ist eine wirtschaftliche Schwäche. Zwei „Crowns“ oder „Squid Games“ im Jahr müssen schon kommen. Und das kostet Geld. Sollte Netflix mit Blick auf schwarze Zahlen irgendwann so weit haushalten müssen, dass große Würfe nicht mehr drin sind, dann könnte es rasch in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Untergangsszenario: Das Restprogramm als Ramschladen aufgekauft von einem der Großen. Oder: Die angenehm zu nutzende Oberfläche und der gut funktionierende Algorithmus befüllt mit Zeug von Disney.

Vorerst ist es nicht so weit. Der nächste popkulturelle Moment ist nämlich schon vorprogrammiert: Die neue Staffel von „The Crown“, die im November startet, sorgt schon für Debatten im Vereinigten Königreich. Schließlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Staffel 5 den frisch gekrönten König Charles in keinem besonders guten Licht dastehen lässt.

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