Neue Ära in der Hamburger Staatsoper: Große Klappe, nichts dahinter

Der neue Chefdirigent Kent Nagano unternimmt mit einer aufs graueste Mittelmaß gestutzten Monumentaloper den Versuch, die Weltspitze zu erobern

Viel Theaterblut läuft die Wand herunter, davor: Catherine Naglestad als Kassandra. Foto: dpa

HAMBURG taz | Wäre das der neue Patriotismus, den Hamburgs Grünen-Frontmann anlässlich der Flüchtlingsdebatte fordert? Mit einem triumphalen Hohen Lied des Hasses lässt Hector Berlioz seine Großoper „Les Troyens“ enden. Elen Zhidkova hat es, als Didon auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper, angestimmt mit ihrem hellen, beweglichen und doch für dramatischen Tiefgang sehr befähigten Sopran.

Die Königin Karthagos singt zwar sehr slawisches Französisch. Aber dass niemand in der Sprache dieser Oper so recht beheimatet ist, das immerhin ließe sich noch als Kunstgriff und adäquate Illustration auffassen. Und es bleibt ja gut zu verstehen, dass diese Frau enttäuscht ist: Enée alias Startenor Tobias Kerl, der Flüchtling, den sie liebte, obwohl er singt, als hätte er einen Kloß im Hals, und dem sie Asyl gewährt hat, will nun doch nicht ihr gehören. Er will nicht bei ihr bleiben und nicht ihr Mann sein. Oh, das schreit nach Rache!

Und so geht die erste Premiere unter der neuen Leitung von Intendant Georges Delnon und Generalmusikdirektor Kent Nagano zu Ende. Seit über zwei Jahren basteln sie an ihrer ersten Spielzeit in Hamburg. Großes haben sie vor mit ihrem Team. An bedeutendem Platze: An Hamburgs Gänsemarkt stand die erste öffentliche Oper nördlich der Alpen, hier hat um 1700 Georg Friedrich Händel, der zum bis heute meistgespielten Opernkomponisten avancieren sollte, vom Pult der zweiten Geige aus, die Gattung kennen und lieben gelernt.

Aber das ist ewig her, Tradition ist keine gerade Linie, und zuletzt war eher über eine unbestimmte Malaise mit der Alleinherrscherin Simone Young geklagt worden, zehn Jahre sind halt eine lange Zeit, und die ganz großen Erfolge waren ausgeblieben. Die sollen jetzt mit Delnon kommen, der Basel in den vergangenen Jahren zum führenden Opernhaus im deutschsprachigen Raum entwickelt hat, und vor allem mit Nagano, der zwar in München weniger glücklich gewirkt hatte, aber in Hamburg gilt er als Superstar, seit er bei der Vertragsunterzeichnung 2012 angekündigt hat, „Hamburg zu einer der führenden Opernstädte der Welt“ zu machen. Bescheiden habe er dabei gewirkt, so hat das die Springerpresse damals wahrgenommen.

Und dafür hat man das im englischen Sprachraum beliebte, in Deutschland aber sehr selten gespielte Riesenwerk der Troyens ausgesucht, was vielen als mutig imponiert hat, und dafür lässt man nun Zhidkova als die Königin Karthagos auf Französisch sterben, und noch während Didon sich laut Libretto selbst anzündet, entfacht sie in einer geradezu nietzscheanischen Volte aus ihrem frustrierten Altruismus jene identitätsstiftende „Haine éternelle à la race d‘Enée“, jenen ewigen Hass auf die Rasse Aeneis, in die der Chor der Priester und Minister nationalstolz einfällt.

In strahlendem, laut Berlioz „noblem“ B-Dur, so wie die Tempeljungfrauen zum Schluss des ersten Teils im walzernden Rhythmus in fröhlichem A-Dur sich mit Cassandre entleibt hatten: Doch, aus diesen bösartig-ironischen Harmonien des Berlioz wäre doch wohl auch ein politischer Funke zu schlagen gewesen, hätte man das nur gewollt.

Bloß: Das wollte man nun partout nicht. Die gegensätzlichen Bewegungen und Stimmungen von Textbuch und Musik, sie finden auf der Bühne keine Entsprechung. Die Sänger stehen hinten in einer Reihe rum. Und dass die Parallelen jener Oper, die Krieg (den Untergang Trojas) und Vertreibung (die Irrfahrt des Aeneas und sein Asyl in Karthago) thematisiert, heute „schlagend“ seien: Das hatte Regisseur Michael Thalheimer schon im Programmheft festgestellt.

Dem, der „sie nicht hört, nicht sieht“, meint er, wäre „nicht mehr zu helfen“. Bloß deswegen auf sie eingehen, sich auf Bilder dafür festlegen – wozu das? Man würde sich ja angreifbar machen: Jede Bezugnahme, jeder Kontakt mit jener Wirklichkeit, in der das Publikum nicht über weniger Expertise verfügt, als der Regisseur, ein Risiko, sei‘s der Blamage und der Peinlichkeit, sei‘s des Skandals, weil sich jemand auf Füße, Schlips oder beides getreten fühlt, der wichtig sein könnte. Und wäre es auch nur Herr Dr. Anjes Tjarks.

Stattdessen hält Thalheimer seine Inszenierung nur so allgemein als möglich: Bühnenbildner Olaf Altmann hat dafür eine riesige nach vorne hin offene Holzkiste gebaut, die als Troja innen und außen, und später auch Karthago dienen soll: Die Rückwand bildet, an einer Drehvorrichtung aufgehängt eine große Klappe. Dahinter ist nichts: Manchmal kommt der Chor unten durch bis zur Rampe nach vorn, dann gänsemarschiert er rückwärts ab.

In Teil eins, in dem die berühmte Sängerin Catherine Naglestad als Cassandre ihren trojanischen Landsleuten dauernd vergeblich versucht, die Freude ob des vermeintlichen Abzugs der Griechen und des tollen Holzpferds zu verderben, fließt in großem Schwall rote, angedickte Farbe das schräggestellte Brett hinab und ergießt sich fädig übers Personal.

In Karthago dann knallt ab und an Minister Narbal (Petri Lindroos) missmutig einen Farbbeutel an die Wand. Und während, wie das Libretto andeutet, Didon und Enée vorm Unwetter in eine Grotte geflüchtet, Sex haben, regnet es monoton und leider lautstark rauschend über eine zwischengeschaltete symphonische Dichtung hinweg: „Chasse royale“, königliche Jagd, hat Berlioz dieses Stück genannt, der emotionale Wende- und musikalische Höhepunkt.

In der ärgerlichen Wagnisfreiheit der Inszenierung kondensiert sich die Mutlosigkeit der gesamten Produktion: Denn die Wahl von Berlioz‚ Großoper ist allenfalls die Vortäuschung von Kühnheit: Zum Einen ist Nagano ein Spezialist für französische Tradition, und sich für Berlioz wirkungsmächtige, rhythmisch meist eher simple und oft geradezu anti-harmonisch organisierte Klangfarbenspiele zu entscheiden, liegt da nahe.

Nicht aus künstlerischem Antrieb, sondern um bloß ja niemandem zur Last zu fallen, hat Kent Nagano entschieden, beim französischen Großkomponisten Pascal Dusapin eine Schrumpffassung des Werks in Auftrag zu geben: Komfortable drei Stunden fünf Minuten, da braucht man die Pause echt nur, um sich zu zeigen.

Dusapin hat seinen Auftrag zuverlässig so besorgt, als hätte man sich entschieden, die mit Karyatiden und Stuckaturen überladene Opéra Garnier treu der Einsicht des Adolf Loos umzubauen, laut dem „das fehlen des ornamentes eine verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge“ hat: Er hat die frei drehende Arabeske, das handlungshemmende Zwischenspiel abgeklopft. Dabei waren sie das künstlerische Anliegen.

Ökonomisch, praktisch, funktional: So ist der ganze Abend. Nichts worüber man sich ärgern müsste, auch wenn es wütende Verrisse der Nagano-Hasser des südwestdeutschen Rundfunks setzt. Aber auch nichts zum Bejubeln, außer im Lokalpatriotenzeitungsfeuilleton. Was das Philharmonische Staatsorchester unter Naganos Dirigat aus dem Graben steigen lässt, könnte konturierter sein.

Aber es lässt sich gut weghören: Agogische oder dynamische Exzesse werden streng vermieden. Statt Weltspitze ist man in graues Mittelmaß geflüchtet. Mildes Bedauern scheint da die angebrachte Reaktion. Und müdes Achselzucken.

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