Neue Ausstellung im Kindermuseum: Blind essen, stumm einkaufen

In der Ausstellung "Alle anders anders" lernen Kinder, was es heißt, nicht dem Standard zu entsprechen.

Auch das Ertasten der Brailleschrift gehört zur Ausstellung. Bild: Kindermuseum, Ulrich Sülflow

Der sechsjährige Alexander betritt den nachgebauten Supermarkt im Labyrinth Kindermuseum. Sein Mitschüler Batuhan winkt ihn imit einladender Geste zu seinem Marktregal. Stumm fährt Alexander mit der Kante der rechten Hand über seinen linken Handrücken, dann zeigt er mit dem Finger ins Regal. Auch ohne Worte versteht Verkäufer Bathuan die Zeichen und reicht Alexander einen Laib Brot. "Das ist anstrengend", erklärt Bathuan, "aber wir sollen nur mit den Händen reden".

Zusammen mit rund 80 weiteren Grundschülern erkunden die beiden Erstklässler die Ausstellung "Alle anders anders". Sie sollen Verständnis für andere entwickeln, die etwa nicht hören oder sprechen können. Wichtig sei die interaktive Herangehensweise, erklärt Künstlerin Ursula Pischel vom Museum: "Kinder lieben es sich zu bewegen". Sonst fehle die Konzentration an anderer Stelle.

"Uns geht es um die Alltäglichkeit des Anderssein", sagt Geschäftsführerin Roswitha von der Goltz. "Jeder Mensch ist anders, sei es weil er gehörlos oder alt ist oder sich anders kleidet. Die Kinder sollen lernen, das Anderssein kein Defizit, sondern eine Chance ist". Abweichungen von der Norm werden häufig negativ bewertet. Aber was bedeutet normal, wenn kein Mensch ist wie der andere?

Durch aktives Erleben sollen die Mädchen und Jungen erfahren, wie es sich anfühlt, blind zu sein, sich anders zu bewegen oder auszusehen. Die rund 1.000 Quadratmeter großen Ausstellung richtet sich an Kinder im Alter von vier bis elf Jahren. Zusätzlich bietet das Kindermuseum während der gesamten Ausstellungszeit Workshops zum Thema Anderssein in den Schulen und Kitas an. Unterstützt wird das Projekts von der Deutsche Behindertenhilfe - Aktion Mensch und der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Auf zwei Etagen sind Spiel- und Lernstationen aufgebaut. Mittelpunkt ist ein Irrgarten aus hohen Holzwänden. Die siebenjährige Sophie hüpft hier in Socken über den Fußtastweg, drei andere Kinder kriechen durch einen Tunnel aus blauen Plastikfässern. Um vorwärts zu kommen, müssen sie sich durch den aufgebauten Parcours anders bewegen als gewohnt.

Währenddessen tastet sich eine neunköpfige Gruppe an den Wänden eines Irrgartens entlang. Die Mädchen und Jungen tragen silberne Taucherbrillen und halten sich gegenseitig an den Schultern fest. Durch die dicken Gläser können sie nur verschleiert sehen, einige erkennen jedoch mehr als andere. Sie sind auf dem Weg ins Blindenrestaurant "Zur Fledermaus". Dort hinein dürfen sie nur in Dreiergruppen, denn sie müssen sich gegenseitig helfen. "Ich kann ziemlich gut sehen", meint Jasmin und führt ihre beiden Freundinnen an einen Tisch.

Gemeinsam entziffern sie die Speisekarte, dann tasten sie sich durch den Raum, um Geschirr, Besteck und Speisen zu suchen. Heather kann nur Hell und Dunkel unterscheiden. Sie setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. "Die Kinder lernen hier, wie stark sie auf den Sehsinn fixiert sind", erläutert von der Goltz, "nach und nach beginnen sie zu fühlen, dann auch zu hören, wo die anderen sind und sich mit ihnen abzusprechen".

Völlig neu ist das Thema Anderssein für das seit 1997 bestehende Kindermuseum nicht. Bereits in den vergangenen Jahren gab es ähnliche Projekte zu Vorurteilen und kulturellen Unterschieden. Wenig erstaunlich, ist die Stadt Berlin als Standort doch gerade durch die Vielfalt ihrer Bürger geprägt. Diese zeigt sich etwa in der kulturellen und religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung. Rund 473.000 Nichtdeutsche aus 195 Staaten leben hier. Muslime, Christen und Juden ebenso wie Hindus und Buddhisten.

"Die Berliner Gesellschaft ist sehr heterogen", sagt Eren Ünsal, Leiterin der Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung. "In Berlin gibt es gewachsene Strukturen, in denen die Vielfalt der Menschen zum Alltag gehört. Leider aber auch Problembereiche, in denen das Anderssein zu gesellschaftlichen Konflikten führt", so Ünsal. Seit 2007 gehört die Landesstelle zur Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Sie soll die Ziele des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes umsetzen. Diskriminierung etwa auf Grund von ethnischer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung soll abgebaut werden. Die resultiert laut Ünsal daraus, Menschen als anders wahrzunehmen und dies negativ zu bewerten. "Um Vorurteilen vorzubeugen, ist es wichtig, Kinder früh für Unterschiede zu sensibilisieren", sagt Ünsal.

Hier setzen die Pädagogen und Künstler des Museums an. "Kinder sind offen, sie gehen gern auf das Andere zu", sagt Geschäftsfüherin von der Goltz. In den verschiedenen Stationen der Ausstellung vermitteln die Mitarbeiter die Thematik spielerisch. "Für jede Altersgruppe und für jeden Charakter gibt es hier einen geeigneten Zugang", erklärt die Künstlerin Ursula Pischel. Die Kinder sollen in der Ausstellung lernen, Individualität als etwas Positives einzuschätzen.

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