Neue Form der Body-Modification: Haut am Haken

Der neue Kult in der Tattoo- und Piercingszene heißt Suspension - das Aufhängen der eigenen Haut an Fleischerhaken. Vorbild sind indianische Bußrituale, das Ziel ist die Erlösung.

Die Sache hat zwei Haken. Einen links, einen rechts. Dazwischen spannen sich zehn Zentimeter lange Hautlappen, grinst ein Totenkopf. Darunter zappelt ein Körper, Phils Körper. Er strampelt mit den Beinen. Der Rücken hängt an zwei Seilen - gehalten von Haken, die wie Heftklammern in der Haut stecken.

Phil pendelt in der großen Halle des Berliner Swinger-Clubs Insomnia, den Kopf auf der Brust, die Augen geschlossen. Er wirkt zufrieden, ist in Trance. Er zieht sich an einem Seil hoch, durchtrennt es mit einer Klinge, lässt los. Der Körper fällt, die Haut hält. Phil schwebt an einem Haken, die 100 Partygäste staunen, eine Bardame verzieht das Gesicht. Währenddessen umklammert Hellka Phils Körper, schwingt ihn zu indianischer Musik durch den Raum - wie ein Kind auf einer Schaukel. Jetzt zerschneidet Phil das zweite Seil, fällt zu Boden, schließt die Augen, genießt den Applaus.

Phil und Hellka sind im Superfly-Team. Die Berliner Gruppe führt regelmäßig solche Shows auf. Der Akt heißt Suspension, in diesem Fall Suicide-Suspension, Selbstmord-Aufhängung. Aber es stirbt niemand dabei. Nur das Bild ähnelt einer Person, die sich erhängt hat. Suspension ist eine Form der Body-Modification, des Körperkults. Sie ist in der Tattoo- und Piercingszene wieder aufgelebt, ist aber viel älter.

Amerikanische Ureinwohner und Hindus büßten damit ihre Sünden, suchten Visionen, vollzogen göttliche Andachten. Heute geht es darum, seinen Körper zu erfahren. Erst muss man die Angst überwinden, dann folgt Schmerz. Durch den Stress werden die Hormone Adrenalin und Beta-Endorphin ausgeschüttet, ein Glücksgefühl entsteht.

Das Ergebnis ist ein den Schmerz erlösender Zustand. Chandler nennt ihn Erleuchtung. "Du kannst jemandem auch 20-mal in die Eier hauen. Ich schaffe das aber mit einem Haken in zwei Sekunden", sagt er, "die Leute grinsen, noch während sie hängen." Es gehe dabei nicht um einen sexuellen Hintergrund, sondern hauptsächlich um die Erleichterung, wenn der Schmerz abnimmt.

Auch wenn das Motto der heutigen Party "Temple of Freaks" lautet, sagt der Amerikaner: "Wir sind keine Freaks." Er wuchs in Richmond im Bundesstaat Virginia auf, stach sich sein erstes Tattoo mit 15 selbst, besuchte 1999 einen Freund in Berlin und blieb in Deutschland. Die vordere Hälfte seines Kopfes ist rasiert, am hinteren Teil baumeln hüftlange Dreadlocks. Der 32-Jährige ist am gesamten Körper tätowiert, an den ausgeleierten Ohrläppchen hängt hornförmiger Schmuck. Auf der rechten Gesichtshälfte sind zwei Längs- und zwei Querstreifen eingebrannt.

2003 lernte er Suspension in Frankreich kennen und gründete das Superfly-Team. Mittlerweile hat die Gruppe um die zehn Vorführer. Heute sind er, Phil, Flo und Hellka dabei. Sie treffen sich auch zu privaten Suspensions im Wald. "Die Auftritte sind eher Arbeit und die Privatsessions das Vergnügen", sagt Chandler, der sich bisher 35-mal aufgehängt hat. Er liebt es. "Es war auch schon so, als hätte ich von außen auf meinen Körper geschaut." Jeder könne andere aufhängen, aber nur bei wenigen sehe es gut aus. "Suspension ist beste Ästhetik, lebende Kunst", sagt Chandler. Es geht um Vertrauen und um den Moment.

Phil sagt an diesem Abend nur eines: "Du musst es für dich selber tun, nicht für andere." Die reagieren unterschiedlich. Flos Eltern finden es nicht toll, Chandlers in Ordnung. "Dennoch weint Mom manchmal, wenn ich ihr davon erzähle", sagt er.

Mittlerweile ist Phil mit Flo an Knien und Unterarmen per Haken und Seil verbunden. Flo schließt die Augen, atmet tief durch. Ein wenig Blut rinnt aus den Einstichpunkten. Sein Körper hebt langsam vom Boden ab, er grinst, redet mit Phil. Der ist weiter in Trance. Wenig später zucken zwei an Haken und Seilen hängende Menschen - einer davon kopfüber - im Musikrhythmus durch den Swinger-Club.

"Es brennt und ist übelst warm", sagt Flo, "und es zieht, wie Schröpfen in gesteigerter Form." Das Stechen eines Tattoos schmerzt mehr, sagt Chandler.

Erich Kasten ist Professor am Institut für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Lübeck und hat die Szene zwei Jahre lang untersucht. Er vergleicht Suspension mit einer Droge. "Die Leute suchen Extremerfahrungen, wir nennen das Sensation-Seeking, mit denen sie vor Freunden glänzen können - das Überwinden der Angst wertet zudem das Selbstbewusstsein auf."

Suspension berge aber Risiken, Gewebe könne reißen. Während des Hängens sammle sich unter der Haut Luft, Keime könnten eindringen und so drohten schlimme Entzündungen. "Die Leute wollen diese Risiken wegen des Kicks aber nicht sehen", sagt Kasten.

Schlimme Entzündungen hatten sie noch keine, sagen Flo und Chandler. Gerissen seien die Haken aber schon mehrmals. "Wir probieren die Figuren immer erst privat aus", sagt Chandler, "da ist es nicht schlimm, wenn etwas passiert." Erst nach dem Test dürfen Interessenten ran, die Suspension einmal ausprobieren wollen. Problematisch sind Muskel- oder Sehnenverletzungen. Das Superfly-Team darf die Haken daher nicht zu tief einstechen.

Wenn sich ein Neuer der Herausforderung stellt, herrscht eine klare Rollenverteilung in der Gruppe. Einer präpariert das Material - Seile, Haken, Flaschenzüge, Schlösser, Handtücher, Desinfektionsmittel. Einer zieht am Seil, einer sorgt sich um den Anfänger. "Er soll sich nicht alleine fühlen. Daher sprechen wir mit ihm", erklärt Chandler. Kollege Flo arbeitet als Krankenpfleger in der Notaufnahme, kann medizinische Hilfe leisten.

Suspender stammen aus allen Bevölkerungsschichten, ihnen ist ihr Leben zu langweilig, sagt Chandler. Im Schnitt sind sie eher männlich und Mitte 20. Frauen steckten den Schmerz besser weg als Männer. Besonders geeignet seien Mütter und Yoga-Anhänger. "Die wissen, wie man mit Schmerz umgeht und richtig atmet", sagt Chandler. Außerdem muss das Klima zwischen Team und Interessenten stimmen. "Wir machen es nicht bei jedem." Professionalität ist ihm wichtig, daher muss der Neuling auch eine Einverständniserklärung unterschreiben. "Ich arbeite schließlich jeden Tag mit Körperverletzung", sagt der Piercer und Tätowierer.

Der jüngste Interessent war 18, der älteste 62. Prinzipiell ist jeder geeignet, bei straffer Haut sei Suspension schwieriger. Anfänger starten in der Regel mit mehreren Haken, damit das Gewicht sich gut verteilt. Flo vergleicht das Debüt mit einem Sprung vom Zehnmeterturm: "Man sollte nicht zu sehr zögern. Entweder du springst gleich oder du lässt es." Übertragen bedeutet das: Sind die Haken einmal eingesetzt, sollte man sich schnell hochziehen lassen - am besten die Beine aktiv vom Boden heben. "Es ist scheißschwer, wie der Führerschein", sagt Chandler, "manchmal braucht man zwei oder drei Versuche."

Die verschiedenen Formen der Suspension bewirken unterschiedliche Gefühle. Die Suicide-Figur ist eine der einfacheren, sie eignet sich für Vorführungen, weil sich die hängende Person gut bewegen kann. Die Superman-Suspension ist die anspruchsloseste Variante. Dabei stecken Haken in Rücken und Beinen, der Körper schwebt horizontal. O-Kee-Pa ist die schmerzhafteste Form. Die Brust hängt an zwei Haken, das Atmen fällt schwer. Kommen weitere Haken an den Beinen hinzu, nennt sich das Koma-Suspension.

Bis zu einer halben Stunde schweben die Suspender. Flo und Phil hängen heute von 1.50 bis 2.03 Uhr. "Die Leute haben vergessen, wie es ist, den Körper zu fühlen. Durch Piercings und Suspension weiß man: Ich bin da."

Heute hat Chandler nur den Piercer gespielt. Er motivierte die Zuschauer, organisierte die Aufführung. Der erste Schockeffekt war kaum verflogen, da schob Chandler Phil durch den Raum und sprang auf das menschliche Pendel auf. "Am geilsten ist es, wenn ich nicht nur Suspension mache, sondern Mucke läuft, Leute feiern und wir länger draußen sind", sagt er, "dann ist es wie in einer Familie." Sie leben bei den privaten Treffen ihre Kreativität aus, erfinden neue Formen. "Zu populär sollte Suspension nicht werden", sagt Flo. Daher macht das Team keine Werbung.

Vor fünf Jahren hat Chandler ein Sommercamp veranstaltet, das will er dieses Jahr wiederholen. "Dann aber mit weniger Leuten, wir wollen wieder zurück zu den Wurzeln." Einzigartig wollen sie bleiben. Im Zentrum stehe schließlich die Lust auf die körpereigenen Drogen, nicht der Massenkult.

Nach dem Auftritt blutet Phils Unterarm, umgehend verschwindet das komplette Superfly-Team backstage. Zurück mit einem Verband geht die Party weiter. Chandler raucht, trinkt Whiskey und knutscht mit Freundin Hellka. Sie fühlen sich wohl in ihrer Haut.

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