Neue Pisa-Studie zu Lesekompetenz: Deutschland ist Mittelmaß

Die neuen Pisa-Ergebnisse sind ernüchternd. Zuständige Politiker scheinen ratlos, die Opposition spricht von einem Weckruf – und kritisiert die Groko.

Schülerinnen schreiben

Klappt es mit dem Lesen? Das hängt stark davon ab, auf welche Schule die Schüler:innen gehen Foto: Ikon/imago

BERLIN taz | Bundesbildungsministerin Anja Karliczek bemühte sich gar nicht erst, die Situation schönzureden. Sie sei wirklich besorgt, sagte Karliczek am Dienstag anlässlich der Vorstellung der neuen Pisa-Studie. Der Ländervergleich der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit, OECD, weist Deutschland seit 2001 einen Platz im Mittelfeld zu. Doch während es nach dem ersten Pisa-Schock eine große Dynamik gab, sehe sie diese heute nicht mehr, so Karliczek. „Wir brauchen einen Aufbruch in der Bildungspolitik. Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, mahnte die CDU-Politikerin.

Drei Ergebnisse der Studie gäben ihr besonders Anlass zur Besorgnis: Der Anteil der leistungsschwachen Schüler:innen steigt seit 2009 wieder an. Der aktuellen Studie zufolge können rund 21 Prozent der Jugendlichen in Klasse 9 gerade mal auf Grundschulniveau lesen. Jungen sind besonders betroffen, sie sind außerdem abgerutscht. Und: Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Leseleistungen von Schülern wird stärker.

Damit legt Karlizcek zumindest den Finger in die Wunden und appellierte an die ebenfalls anwesenden Vertreter der Länder, in Zukunft besser zusammenzuarbeiten. Doch die Länder, namentlich Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, hatten Karliczek gerade abblitzen lassen, als es um einen gemeinsamen nationalen Bildungsrat ging.

Die Reaktion des amtierenden Präsidenten der Kultusministerkonferenz und hessischen Ressortchefs Alexander Lorz, CDU, auf die Ergebnisse der Pisa-Studie ist denn auch eher hilflos. Gefragt, was denn jetzt nötig sei, um den Anteil der sehr schwachen Leser:innen zu verringern und das Schulsystem gerechter zu machen, meinte Lorz, er habe auch kein „Zauberrezept“.

Scharfe Kritik an Bildungspolitik der Groko

Er verwies auf die gemeinsame Strategie zur Förderung leistungsschwacher Schüler und Schülerinnen und das gemeinsame Bund-Länder-Programm für Brennpunktschulen. „Das ist das Beste, was uns eingefallen ist“, meinte Lorz. Doch das ist recht wenig. Die gemeinsame Strategie ist schon vor zehn Jahren aufgesetzt worden und legt gemeinsame Ziel, aber keine länderübergreifenden Maßnahmen fest. Und mit dem Programm für Brennpunktschulen werden in den nächsten zehn Jahren rund 200 Schulen erreicht – nicht einmal 1 Prozent der allgemeinbildenden Schulen in Deutschland.

Die Reaktionen auf die Ergebnisse der Pisa-Studie fielen denn auch recht harsch aus. Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen Margit Stumpp nannte es beschämend, dass der Bildungserfolg in Deutschland nach wie vor stark vom Elternhaus abhängt. „Die aktuelle Studie muss ein Weckruf sein.“ Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte, sieht die Bundesregierung in der Pflicht. „Am schlechtesten im Pisa-Test hat die Bundesregierung abgeschnitten.“ Es gebe kein deutlicheres Zeichen für Politikversagen, als wenn die Zukunft von Kindern abhängig von ihrer sozialen Herkunft sei.

Doch zuständig für die Schulpolitik sind vor allem die Länder. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD Bärbel Bas kritisiert den Ausstieg der Länder aus dem Bildungsrat. „Wir halten am Ausbau der Ganztagsbetreuung fest und wollen den geplanten gesetzlichen Anspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule bis zum Jahr 2025 umsetzen“, so Bas. „Dies geht nur, wenn Bund und Länder zusammenarbeiten.“

Der Schwerpunkt der aktuellen Studie lag wie auch im Jahr 2000 auf den Lesefähigkeiten der Neuntklässler:innen. Aktuell erreichen deutsche Schüler:innen im Durchschnitt knapp 500 Pisa-Punkte und damit das Niveau 3 auf einer Skala von 1 bis 6. Anders als vor 20 Jahren, als Deutschland mittelmäßig, aber unterdurchschnittlich abschnitt, liegen die Jugendlichen nun sogar leicht über dem Durchschnitt der OECD-Staaten.

Die Schere zwischen unten und oben geht auf

Die Verbesserungen der deutschen 15-Jährigen sind jedoch nur bedingt auf gestiegene Lesekompetenzen zurückzuführen – im Vergleich zur zweiten großen Lesestudie von 2009 sind diese sogar gleich geblieben –, sondern darauf, dass frühe Pisa-Sieger wie Schweden oder Finnland abgesackt sind. Die Spitzengruppe rekrutiert sich aus chinesischen Provinzen und Singapur.

Hinter dem deutschen Durchschnitt steckt außerdem eine besorgniserregende Entwicklung: Die Schere zwischen den starken und den schwachen Leser:innen geht auf. So ist der Anteil der sehr schwachen Leser:innen auf dem Kompetenzniveau 1 oder im Vergleich zur Pisa-Studie mit gleichem Schwerpunkt im Jahre 2009 gestiegen. Aktuell gelten fast 21 Prozent der Neuntklässler:innen als schwache Leser:innen.

Das heißt, sie können die Grundidee eines Textes mittlerer Länge nicht erkennen und keine Zusammenhänge herstellen. Besonders betroffen sind Jungen. Der Anteil von besonders leseschwachen Jungen liegt seit 2009 unverändert bei einem Viertel, wobei die Gruppe derjenigen, die kaum oder gar nicht lesen können, sogar gewachsen ist.

Andererseits ist auch die Gruppe der starken Leser:innen gewachsen. Auf den oberen beiden Kompetenzstufen lesen 11 Prozent der Jugendlichen.

Gymnasien hui, alle anderen pfui

Schaut man sich an, auf welche Schularten sich diese Gruppen verteilen, dann ergibt sich ein sehr klares Bild. Die Leseschwachen sammeln sich an den nicht gymnasialen Schularten, die Lesestarken an den Gymnasien. An den Schulen ohne Abitur können 29 Prozent der Schüler:innen Texte nicht so lesen, dass sie deren Sinn erkennen. Die Leistungsspitze ist fast gar nicht vertreten.

An den Gymnasien gelten dagegen nur 2 Prozent der Schüler:innen als leseschwach, mehr als ein Viertel der Jugendlichen verfügt aber über sehr hohe Kompetenzen. „Diese Jugendlichen bringen somit ausgezeichnete Voraussetzungen für die weitere schulische und berufliche Ausbildung mit“, heißt es im deutschen Pisa-Band. Dagegen liefen Menschen mit niedrigen Basiskompetenzen mehr denn je Gefahr, ausgegrenzt zu werden, so OECD-Vizegeneralsekretär Ludger Schuknecht in einer Presseerklärung.

Der Studie zufolge ist die Konzentration von leistungstarken und -schwachen Schülern auf bestimmte Schularten in Deutschland besonders ausgeprägt. „Grund dafür ist die frühe Selektion und Aufteilung auf verschiedene Schultypen“, heißt es in der Ländernotiz der OECD für Deutschland.

Da das Elternhaus in Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Wahl der weiterführenden Schulart meist nach Klasse 4 spielt, verwundert es nicht, dass der Zusammenhang zwischen Herkunft und Lesekompetenzen im internationalen Vergleich überdurchschnittlich stark ausfällt. Im Vergleich zur Studie von 2009 hat sich die soziale Abhängigkeit von Kompetenzen sogar noch verstärkt.

Schüler:innen leiden unter Lehrermangel

Ein ähnliches Bild ergibt sich auch, wenn die mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen der Schüler:innen betrachtet werden, die in der aktuellen Studie im Nebenfach getestet wurden. Diese haben sich im Mittel gegenüber der letzten Untersuchung im Jahr 2015 verschlechtert.

Chancengerechtigkeit bleibe eine Herausforderung für das deutsche Schulsystem, so die OECD. Sie merkt an, dass Schulleiterinnen und Schulleiter in Deutschland deutlich häufiger über eine mangelnde Ausstattung mit Personal und Sachmitteln klagten als ihre Kolleginnen und Kollegen im OECD-Schnitt. Gleichzeitig seien sozioökonomisch benachteiligte Schulen stärker mit Personalmangel konfrontiert als sozioökonomisch begünstigte Schulen.

In den ergänzenden Befragungen zur Studie haben Schulleiter:innen angegeben, dass 70 Prozent der Schüler:innen in Brennpunktschulen von Unterrichtsausfällen durch Lehrermangel betroffen seien. An begünstigten Schulen traf es nur 34 Prozent der Schüler:innen.

Für die aktuelle Studie wurden weltweit 600.000 Neuntklässler:innen in 79 Ländern getestet. In Deutschland bearbeiteten gut 5.500 Schüler:innen aus 223 Schulen die Aufgaben, und zwar ausschließlich digital.

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