Neuer Film von Andreas Dresen: "Zum Glauben brauch ich keine Kirche"

In seinem Film "Halt auf freier Strecke" geht es um Krebs und Tod. Sich damit zu beschäftigen, sagt Regisseur Andreas Dresen, kann befreien.

Regisseur Andreas Dresen hat einen Film über das Tabu-Thema Tod gemacht. Bild: dpa

taz: Herr Dresen, es war nicht einfach, während des Films die Tränen zurückzuhalten. Aber das hören Sie wahrscheinlich von Vielen?

Andreas Dresen: Im Kino gibt es nichts Schlimmeres als Gleichgültigkeit. Ich will im Kino lachen und weinen, ein Stück Leben teilen mit den Figuren, denen ich dort begegne. Wenn ich dann spüre, dass unser Film Menschen berührt, dann ist das etwas Wunderbares. Andererseits soll der Film ja auch nicht niederschmettern.

Hatten Sie Angst, dass die Zuschauer in Scharen das Kino verlassen?

geboren 1963 in Gera, studierte Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Sein erster Film "Stilles Land" (1991) beschreibt die Zeit der Wende und des Zusammenbruchs der DDR am Beispiel eines kleinen Provinztheaters. Seinen Durchbruch erlebte er mit dem Episodenfilm "Nachtgestalten" (1999), der eine Nacht im Leben eines Obdachlosenpaars, eines jungen Bauern und eines Angestellten erzählt.

Dresens größter Publikumserfolg war "Sommer vorm Balkon" (2006) über die Freundschaft zwischen der Altenpflegerin Nike und ihrer arbeitslosen Freundin Katrin.

Es wird sicherlich passieren, dass der eine oder andere diesen Film nicht aushalten kann. Aber damit muss man bei diesem Thema rechnen. Der Tod ist ein Teil vom Leben. Indem wir uns immer nur ums Sterben drücken, ist niemandem geholfen. Früher oder später trifft es jeden. Wir zeigen etwas, das wir tief in unserem Inneren verschließen und sehr fürchten. Aber wenn man diese Tür doch mal aufmacht, kann das etwas sehr Befreiendes sein. So ging es uns auch beim Drehen. Wir haben nach und nach eine Art schwarzen Mantel abgeworfen.

Bei Ihrem Film "Wolke 9" ging es um Liebe und Sex im Alter, bei "Halt auf freier Strecke" geht es nun um den Tod. Lieben Sie Tabus?

Das Tabu entsteht immer von außen. Wenn man ältere Leute befragt, stellt man sehr schnell fest, dass die meisten noch Sexualität leben. Auch der Tod ist nur ein Tabu, weil unsere Gesellschaft ihn ausschließt. Ich gehe nicht durch die Welt und denke darüber nach, was ich denn noch für ein Thema aufgreifen könnte, damit alle empört aufschreien. Eher ist es so, dass bestimmte Themen zu mir finden.

Wie denn?

Ich werde älter, die Einschläge kommen näher. Im Freundeskreis sterben immer mehr Freunde und Verwandte. Außerdem habe ich eine schwere Trennung hinter mir. Dann habe ich gemerkt, dass es kaum Filme gibt, die vom Sterben erzählen, wie ich mir das wünschen würde. Es gibt wahnsinnig viele Tote auf der Leinwand, aber selten sterben sie so, wie es die meisten in ihrem Alltag erleben. Der Tod wird meist in viel Sentimentalität und falsches Pathos verpackt. Oder es geht um Quantität. Also darum, wie viele Menschen man in einem Film umbringen kann.

Ihr Film beginnt mit einer Szene, wie man sie aus der Krankenhausserie kennt. Ein Arzt eröffnet seinem Patienten, dass er nicht mehr lang zu leben hat. Was macht diese Szene trotzdem so besonders?

Das war verrückt. Ich wollte diese Szene am Anfang genau aus diesen Gründen nicht drehen. Dann fand ich aber, dass die Schauspieler diese Szene erlebt haben sollten. Und ich wollte es auch erleben. Wir haben also einen realen Arzt gefragt, Dr. Uwe Träger, Chefneurochirurg am Potsdamer Klinikum Ernst von Bergmann. Herr Träger war bereit, dieses Gespräch vor laufender Kamera mit den Schauspielern zu führen. Er führt diese Gespräche in der Realität zwei- bis dreimal die Woche, an ebendiesem Schreibtisch, in ebendiesem Raum.

Die Schauspieler haben den Arzt vor laufender Kamera kennengelernt, und das Gespräch dauerte vierzig bis fünfzig Minuten. Es war erschütternd. Es war so, wie ich es mir überhaupt nicht vorgestellt hatte. Ich fand diesen Arzt im höchsten Maße beeindruckend. Er war sachlich, aber auch voller Empathie. Seine Unsicherheit und Hilflosigkeit waren immer zu spüren. Er gibt seinem Gegenüber viel Raum. Er lässt lange Pausen, die viele, viele Sekunden lang sind. Und dann fragt er ganz oft nach, ob das, was er gesagt hat, verstanden wurde.

Denken Sie, er hat während des Drehs anders agiert, weil eine laufende Kamera im Raum war?

Nach dem Dreh hat er mir gesagt, dass er das alles immer genauso macht. Er kommt nicht gleich mit der ganzen Wahrheit, antwortet aber auf alle Fragen. Er sagt jedem, was er wissen will, was er also verkraften kann.

Aber nicht nur dieser Arzt ist beeindruckend. Auch die Schauspieler, Milan Peschel und Steffi Kühnert als Frank und Simone Lange, sind mitreißend.

Ich war so aufgewühlt, dass ich schon beim Drehen merkte, dass diese Szene in den Film gehört. So hatte ich das noch nie gesehen. Herr Träger hatte mir am Vortag gesagt, dies sei kein Ort der großen Emotion. Die meisten seiner Patienten reagieren nach so einer Diagnose erst einmal vollkommen paralysiert. Das hatte ich den Schauspielern vorher auch gesagt, damit sie nicht das Gefühl haben, dass sie sonst etwas zeigen müssen. Steffi hat also versucht, ihr Heulen zu kontrollieren. Dadurch entstand ein wahnsinniger, kraftvoller, archaischer Moment. Sie sitzt ganz still da, und die Tränen fließen einfach aus ihr raus.

Steffi Kühnert schafft es nicht, Milan Peschel anzusehen.

Milan schaut mal zu Steffi, aber Steffi schaut ihn nicht an. Hinterher sagte sie, sie konnte nicht. Solche Szenen sind Geschenke.

Stand von Anfang an fest, dass Sie diesen Film improvisiert drehen wollten, also ohne Drehbuch - so wie Ihre vorherigen Filme "Halbe Treppe" und "Wolke 9"?

Ja, denn es gibt bestimmte Themen, die dafür geeignet sind. Mit Improvisation, kleinen Konstellationen und zarten Mitteln kommt man dem Alltag am besten bei. Wir wollten das Thema nicht mit zu viel Dramaturgie überladen. Darum hat der Film auch gar keinen Plot und keine Wendepunkte. Man weiß vom ersten Moment an, wie er endet.

Es ist wichtiger, wie etwas gesagt wird, als was gesagt wird?

Genau. In der Zusammenfassung klingt der Film wie eine völlig banale, fünftausendmal erzählte Allerweltsgeschichte. Es geht aber im Film darum, dicht an die Figuren und an den Alltag heranzukommen. Der Ton muss überraschend sein. Es darf nie sentimental oder kitschig werden.

Wie erreichen Sie das?

Bei dieser Arbeitsweise ist es nahezu unmöglich, mit Schauspielern falsche Töne zu produzieren. Gemeinhin hat man mit Schauspielern die Aufgabe, einen Drehbuchtext so klingen zu lassen, als wäre er in diesem Moment gedacht und gesagt worden. Das gelingt manchmal, und manchmal gelingt es nicht. Bei der Improvisation gibt es keine auswendig gelernten Wiederholungen. Alles wird wirklich zum ersten Mal gedacht und auch gesagt.

Warum wirken Ihre Schauspieler so authentisch kleinbürgerlich?

Das hat mit Recherche zu tun. Wir beschäftigen uns intensiv mit dem Milieu. Steffi hat gelernt, Straßenbahn zu fahren. Sie hat sich mit Straßenbahnfahrerinnen getroffen. Wir arbeiten uns heran. Es ist so, als ob man ein Gefäß mit ganz viel Material und Leben auffüllt, und in dem Moment, wo man anfängt zu drehen, ist die meiste Arbeit getan.

Warum haben Sie es so sehr mit dem kleinbürgerlichen Milieu?

Weil es so selten vorkommt im Film. Es ist einfacher, von sehr reichen oder sehr armen Menschen zu erzählen. Die meisten Leute in meinen Filmen haben einen ganz normalen Alltag, es passiert wenig Spektakuläres.

Ihr Film kommt sehr echt und dokumentarisch daher, ist aber trotzdem Fiktion.

Wir suggerieren natürlich auch nur, dass wir näher an der Wirklichkeit sind. Wir manipulieren. Im Kino gibt es keine Authentizität. Wer Authentizität will, der soll auf die Straße gehen. Wenn man Glück hat, dann kann man im Kino die Wahrheit sehen. Aber die ist von Menschen gemacht. Für diese Wahrheit haben eine ganze Menge Leute vor und hinter der Kamera sehr hart gearbeitet.

Das Ende Ihres Films ist ebenfalls sehr versöhnlich.

Der Film mündet in einer sehr friedfertigen Situation. Die Tränen sind geweint, und es wird still. Es gibt eine Totale, und man tritt zurück. Man weiß gar nicht genau, wann Frank Lange denn jetzt genau stirbt. Das geht Vielen so, die dabei sind, wenn ein Angehöriger stirbt: dass sie gar nicht genau sagen können, wann der Tod eingetreten ist.

Sind Sie Atheist?

In meinem Beruf ist es schwer, an nichts zu glauben, dafür passieren zu viele Dinge, die so besonders und überraschend sind. Oft findet man die besten Sachen am Wegesrand. Aber ich brauche für meinen Glauben keine Kirche.

Hat der Tod einen Sinn?

Natürlich! Man muss sich doch nur mal vorstellen, man wäre unsterblich! Man würde doch völlig orientierungslos durch die Gegend latschen! Die Limitierung ist ein Motor. Und wir machen Platz für Neues. Das ist Evolution.

Das Sterben Ihrer Figur ist trotzdem total sinnlos.

Es ist Schicksal. Niemand ist schuld an dieser Krankheit. Hat Frank Lange zu wenig Tomaten gegessen? Ist er zu wenig Fahrrad gefahren? Nö. Es gibt einfach Dinge, die wir nicht verstehen und kontrollieren können.

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