Neuer Merve-Band: Mensch ist nur ein Ding unter Vielen

Kürzlich wurde im Berliner Merve Verlag der neue Band „Abysuss Intellectualis“ vorgestellt. Ein Abend voller intellektueller Herausforderungen.

"Alles, was wir sehen könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein." (Ludwig Wittgenstein) Bild: AP

Wie denkt das Denken den Tod des Denkens? Was ist, wenn Nietzsche recht hatte und unsere Existenz in ihrer geistigen Wirklichkeit sinnlos ist? Fragen, die genauso diffus im Raum schweben wie der regelmäßig aufsteigende Zigarettenqualm, der den Blick auf die vollen Bücherregale vernebelt, aus denen das geballte geisteswissenschaftliche Diskurswissen des kleinen, aber einflussreichen Merve Verlags spricht.

Das Verlagsbüro wirkt mit seinen Holzdielen und dem ordentlichen Chaos aus herumliegenden Zeitungsartikeln, Büchern und Manuskripten wie eine Insel der analogen Entschleunigung. Es gibt Sesamstangen, Flaschenbier, Bordeaux und etwas zu feiern: die Veröffentlichung der 399. Katalognummer: „Abyssus Intellectualis“. Ein Buch, das die Texte von unterschiedlicher Fantastikautoren wie H. P. Lovecraft und dem Amerikaner Thomas Ligotti versammelt sowie Beiträge aus aktueller Philosophie.

Die Literaturwissenschaftler und Herausgeber Armen Avanessian und Björn Quiring sitzen vor etwa 30 Besuchern im kompakten Schöneberger Verlagsbüro. Die genüsslich rauchenden Menschen und die schummrige Beleuchtung verleihen dem Szenario einen konspirativen Glanz. „Es geht darum, welches imaginäre Potenzial die Horrorliteratur für Ansätze aktueller Philosophie bereitstellt. Das Nachdenken über die Grenzen zwischen Leben und Tod und darüber hinaus ist ihnen schon immer gemeinsam“, sagt Avanessian und nimmt einen Schluck aus der Bierflasche.

Wider den Kant’schen „Korrelationismus"

Das populärste Resultat dieses produktiven Austauschs zwischen aktueller Philosophie und Fantastik, in der es keine sichere Umgebung nach der Vernichtung des Bösen gibt, ist der „spekulative Realismus“. Eine sehr junge philosophische Strömung, die den Kant’schen „Korrelationismus“ kritisiert, der die Welt und die in ihr existierenden Dinge immer nur vom wahrnehmenden Subjekt aus denkt. Die spekulativen Realisten ziehen aus dieser Kritik radikale Konsequenzen: Der Mensch wird verstanden als ein Objekt unter vielen und ist demnach gleichberechtigt mit einem Tier, einem Kleiderschrank oder einem Baum.

In „Abysuss Intellectualis“ kommen zwei der zentralen Vordenker dieser Strömung zu Wort. So beschreibt ihr wichtigster Vertreter, der französische Philosoph Quentin Meillassoux, in seinem Aufsatz über „Science-Fiction und Fiktion außerhalb der Wissenschaft“, dass ihm besonders die Texte Isaac Asimovs als Erklärungsrahmen für die Idee dienen, dass unsere Naturgesetze nicht verlässlich sind und wir stattdessen in einer Welt leben, die von einer „absoluten Kontingenz“, also einer chaotischen Unvorhersehbarkeit, geprägt ist. Demnach ist die philosophische Konsequenz des Bands, dass „unsere Normalität am ehesten noch aus dem Phantastischen heraus zu verstehen ist“.

Neben den Herausgebern ist auch der in Beirut lehrende Philosoph Ray Brassier persönlich anwesend. In schottisch gefärbtem Englisch liest er aus seinem Textbeitrag das erstmals ins Deutsche übersetzte Schlusskapitel seines Werks „Nihil Unbound – Enlightenment and Extinction“.

Im Gegensatz zu Meillassoux, der mit seiner Kritik am Korrelationismus eine Welt vor und nach dem Menschen zu denken versucht, geht es Brassier, der sich längst vom spekulativen Realismus distanziert hat, um einen radikalen Nihilismus, der das menschliche Bewusstsein und die vermeintliche Rationalität als Illusion entlarvt.

Philosophische Selbstermächtigung

Für Merve-Verleger Tom Lamberty ist „Abysuss“ eine Fortsetzung des Anfang des Jahres erschienenen Bands „Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert“, in dem deren zentrale Ideen erstmals auf Deutsch zusammengefasst wurden, sowie des jüngst erschienenen Merve-Bands „Akzeleration“.

„Ich mag es, mit dieser neuen philosophischen Generation zu arbeiten, da sie viel weniger dogmatisch sind als etwa die Schüler von Foucault oder Deleuze“, erzählt Lamberty später. Besonders begeistert ist er von der Nähe der Autoren zu vermeintlich disziplinfernen Feldern wie Musik und Literatur, aber auch vom hohen Grad ihrer Vernetzung über Blogs.

Die zunächst abstrakt wirkenden Theorien verbindet ein politischer Impetus. So fordert der Akzelerationismus eine bewusste Zuspitzung der gegenwärtigen Krisen. Der Kapitalismus soll beschleunigt werden, bis eine befreiende Revolution oder Zerstörung erreicht ist, die Neues ermöglicht.

Auch Brassier verfolgt mit seinen nihilistischen Texten eine Art philosophische Selbstermächtigung, wie er im Gespräch erklärt: „Wenn wir die Sinnlosigkeit unserer Existenz endlich akzeptieren und unser Denken von den sozialen Hürden befreien, wird Nihilismus zu einer prometheischen Chance.“ Nach dem Mythos brachte Prometheus den Menschen das Feuer und damit Kultur. Solches Licht konnte an diesem Abend in den vielen fragmentarischen Ideen nur aufblitzen.

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