Neuer Roman von Philipp Winkler: Einsame Wölfe im Darknet

Philipp Winklers „Creep“ handelt von zwei Außenseitern, die im Internet unterwegs sind. Der Roman erzählt, wie Gewalt inszeniert wird.

Eine Person schaut auf eine Wand von Überwachungsmonitoren

Creep“ ist auch ein Roman über Sprache und (verfehlte) Kommunikation Foto: Georg Kühn/plainpicture

Vielleicht kann man sich Philipp Winklers neuem Buch „Creep“, dessen Handlung oft in den Hinterzimmern und Dunkelkammern des ­Internets spielt, über seinen Titel annähern. Einerseits sind „­Creepers“ (wörtlich unter anderem Schlingpflanzen, Würmer; to creep = schleichen) im Netzkontext Onlinestalker, die einem virtuell auf Schritt und Tritt folgen, aber nicht mit einem in Kontakt treten. Spooky Gestalten.

Aber es gibt auch einen ganz konkreten Creeper, auf den der Autor sich in dem Buch bezieht: Der bis heute ungeklärte Mord an der US-Amerikanerin Missy Bevers 2016 in Texas in einer Kirche wurde vom sogenannten Church Creeper begangen, der einen Hammer vor der Tat bei sich trug; der Fall ist zu einem True-Crime-Phänomen im Netz geworden. Beim Computerspiel „Minecraft“ sind Creeper dagegen explodierende Monster. Und auch die allererste Malware überhaupt hieß Creeper. 1971 war das, damals sagte man eben noch Computerwurm dazu.

Diesem Niedlichkeitsstadium ist die virtuelle Welt längst entwachsen, und davon handelt „Creep“. Es geht dem Autor unter anderem darum, wie reale und virtuell dargestellte Grausamkeit einander gegenseitig beeinflussen und bedingen. Winklers Protagonisten sind im Deep Web und Darknet unterwegs, sie gucken sich in Foren Videos von Suiziden, Morden und anderen Gewalttaten an – beziehungsweise streamen sie selbst.

„Creep“ erzählt also von all den üblen hochgeladenen Inhalten im Netz, die, wie es an einer Stelle heißt, „Social Media Content Moderators auf den Philippinen und in anderen vornehmlich fernöstlichen Ländern […] unter sklavischen Arbeitsbedingungen und ohne die geringste Form von psychologischer Vorbereitung oder Betreuung“ von den Plattformen wieder entfernen müssen.

Philipp Winkler: „Creep“. Aufbau Verlag, Berlin 2022. 342 Seiten, 22 Euro

Die Handlung wird aus zwei Perspektiven erzählt: Da ist zum einen Fanni. Fanni ist quasi im Internet sozialisiert worden, sie scheint seit dem Teenageralter mit dem Laptop verwachsen, kennt alle frühen Subkulturen des Internets. Sie arbeitet im Bereich Research & Development für eine Firma namens BELL.

Gewohnheitsmäßige Überwachung

Dieses Unternehmen hat Überwachungskameras in den Häusern ihrer Kunden installiert und soll deren Sicherheit gewährleisten. Fanni schaut gewohnheitsmäßig in die Wohnhäuser hinein, guckt, was die Familien in Winsen an der Luhe, Pforzheim oder sonst wo machen. Ihren physischen Körper nennt Fanni einen „Meat Prison“, dem sie vorgefertigte Nahrungsrationen zukommen lässt.

Zum anderen ist da Junya. Junya lebt in der Präfektur Tokio, er träumt eigentlich von einem Kunststudium, bekommt aber im jährlichen Turnus nur Absageschreiben und lebt noch bei seiner Mutter. Junya ist gezeichnet vom Mobbing, das er in der Schule erlebt hat, auch seine Mutter behandelte ihn übel und zwang ihn mit Gewalt zum Unterricht. Nun begegnet er Masataka, seinem alten Peiniger aus Schultagen. Der zieht ihn in einen Untergrundring hinein, doch weiß er noch nicht, dass Junya ein landesweit gesuchter Mörder ist.

Junya dringt in die Häuser seiner Opfer ein und erschlägt sie mit dem Hammer, seinen ehemaligen Lehrer überrascht er im Schlaf und tötet ihn. „Albtraum von Tama“ nennen sie ihn (Tama ist ein Vorort von Tokio, in dem Junya aufwuchs). Aufzeichnungen seiner Taten stellt er unter seinem Accountnamen Hammer_Priest ins Darknetforum.

Genese von Gewalt

Philipp Winkler ist vor allem durch seinen 2016 veröffentlichten Roman „Hool“ bekannt geworden, der in der Hooliganszene spielt und in dem es um brutale Prügeleien in Wäldern, um männliche Rudel und deren Reviermarkierungen geht. Schon in „Hool“ fiel auf, wie nah Winkler seinem Sujet kommt, wie genau er recherchiert, wie punktgenau er beschreibt.

Diese Qualitäten zeichnen auch „Creep“ aus. Und während man eingangs noch denkt, diese Bücher hätten – abgesehen davon, dass sie in extremen Subkulturen spielen – nicht viel gemein, so ist natürlich die Genese von Gewalt ein großes Thema in beiden.

Doch „Creep“ hat viele Ebenen, lässt viel Raum für Auseinandersetzung. Es ist auch ein Roman über Sprache und (verfehlte) Kommunikation. Die Fanni-Kapitel sind in der Sprache und mit den Codes erzählt, die in den Netzsubkulturen und in ihrem Beruf verwendet werden.

Das hört sich dann so an: „Was Fanni am MonstroMart überzeugt hatte – neben dem vergleichsweise starken Fokus auf Data Dumps und Carding –, war der Name des Marketplaces selbst bzw. der Humor hinter der Simpsons-Referenz, den die Admins damit bewiesen. Sie gingen sogar die Extra Mile und übernahmen den Slogan in den Seitenheader: MonstroMart – Where shopping is a baffling ordeal. Fanni schätzte die Konsequenz. Immerhin riskieren die Admins, potenzielle User_innen, die die Referenz nicht verstehen, damit abzuschrecken. Außerdem kann man den Slogan natürlich auch als Metajoke über die allgemeine Shoppingerfahrung im Dark Web betrachten.“ Ein IT-Denglisch also.

Mobbingopfer und Wolf zugleich

Auch das Gendern in den Fanni-Kapiteln ist auffällig, denn so konsequent wie hier („der_die Kund_in“) sieht man das (noch) selten in Romanen. Interessant, dass das nur in den Fanni-Kapiteln so ist. Beide, Fanni wie Junya, haben überdies keine gemeinsame Sprache mehr mit der Elterngeneration, was auch deshalb so ist, weil ihre Kommunikation viel weniger mündlich und direkt stattfindet.

Das übergeordnete Thema aber ist wohl, wie die digitale Ära Gewalttaten und deren Entstehung verändert. Die Figur Junya ist Mobbingopfer sowie „Lone Wolf“ zugleich und zählt zu den Charaktertypen, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten oft für Attentate verantwortlich waren. Als die Polizisten Junya am Ende zum Bezirksgericht führen (womit man nicht zu viel spoilert), erscheinen dort seine zahlreichen Fans und Follower aus den Foren und von den Social-Media-Plattformen. Sie jubeln ihm zu.

Dystopische Erzählungen dieser Art können manchmal platt und abgedroschen geraten, vor allem, wenn die Haltung des Autors allzu klar mitschwingt (man denke etwa an Dave ­Eggers’ „The Circle“). Dies ist in „Creep“ nicht der Fall. Winkler gelingt eine tiefe Beschreibung der mit der digitalen Ära einhergehenden neuen Inszenierungsmöglichkeiten von Gewalttaten.

Moralfreie Räume

Es steckt sehr viel in diesem Buch, was uns als Gesellschaft beschäftigt und noch beschäftigen wird: Mobbing und Cybermobbing, die Allgegenwart des Streamings, Überwachung. Der vielleicht endgültige Verlust der Privatsphäre und die gerade in Deutschland immer noch vorherrschende Naivi­tät gegenüber der virtuellen Welt. Oder die Existenz von moralfreien Räumen im Netz.

„Creep“ ist somit ein sehr gegenwärtiges Buch, für das sich gerade die interessieren sollten, die die Sprache, die darin gesprochen wird, nicht sofort verstehen.

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