Neuer arabischer Frühling?: Protestwelle in Tunesien

An einer Selbstverbrennung entzündet sich Aufruhr in mehreren Städten. Das erinnert an den Start des „Arabischen Frühlings“ vor acht Jahren.

Auf einer Straße. Im Vordergrund ein behelmter Polizist, im Hintergrund Jugendliche, am Straßenrand Rauchentwicklung

In den Straßen von Kasserine, 25. Dezember Foto: reuters

TUNIS taz | Die Empörung über die Selbstverbrennung eines 33- jährigen Journalisten ist in der südtunesischen Stadt Kasserine am Dienstag in Proteste und Straßenschlachten eskaliert. Nach der Beerdigung von Abderrazak Zorgui errichteten Demonstranten in Kasserine, Kef und anderen Orten brennende Barrikaden und Straßensperren. Mit Schlagstöcken bewaffnete Polizeieinheiten setzten Tränengas ein, um die meist jungen Männer von den Straßen zu vertreiben.

Der freie Journalist Zorgui hatte in einem Facebook-Video die hohe Arbeitslosigkeit in Südtunesien und seine eigene Perspektivlosigkeit beklagt. Er werde seine „eigene Revolution“ starten, schrieb er in einem seitdem tausendfach geteilten Post am Montag. Zwanzig Minuten nach der Veröffentlichung übergoss er sich vor dem Bürgermeisteramt von Kasserine mit Benzin und zündete sich an. Nach der Einlieferung in das Mongi-Slim-Krankenhaus in Tunis erlag er den schweren Verbrennungen.

Auf sozialen Medien behaupteten lokale Medien aus Kasserine, dass sich Zorgui zwar mit Benzin übergossen habe, aber von einem noch unbekannten Täter angezündet worden sei. Auf dem Handy-Video eines Augenzeugen ist zu sehen, wie ein junger Mann vor dem Sitz des Bürgermeisters droht, sich umzubringen, und plötzlich in Flammen aufgeht.

Der Fall erinnert an den Studenten Mohamed Bouazizi, dessen öffentliche Selbstverbrennung in dem südtunesischen Ort Sidi Bouzid im Dezember 2010 zu einem landesweiten Aufstand, den Sturz des Ben-Ali-Regimes im Januar 2011 und zu Massenprotesten mit unterschiedlichem Ausgang gegen die Regierungen in Ägypten, Libyen und Syrien führte.

Seit 2011 hat sich im Süden Tunesiens wenig geändert

Zwar gilt Tunesien seitdem als „Leuchtturm des Arabischen Frühlings“, weil nur hier eine Demokratisierung geglückt ist, aber in Orten wie Kasserine oder Sidi Bouzid hat sich wenig geändert. Der Süden Tunesiens leidet unter einer dramatischen Landflucht, für den die Zivilgesellschaft neben der grassierenden Korruption, Umweltverschmutzung vor allem die akute Wirtschaftskrise verantwortlich macht.

Während in der Hauptstadt Tunis neue Bürgerinitiativen und das freigewählte Parlament zahlreiche Reformen durchsetzen konnten, fühlt sich die Jugend in Orten wie Kasserine vom politischen Leben völlig ausgeschlossen. Viele leben ausschließlich von Schmuggel entlang der nahen algerischen Grenze. Die Arbeitslosenquote liegt nach Angaben von lokalen Aktivisten in Kasserine und Sidi Bouzid wohl weit über 50 Prozent.

Den Staat kennen viele Jugendliche nur in Form von Polizeiwillkür. Tunesiens Sicherheitsapparat bleibt auch weiterhin wegen der akuten Terrorgefahr von den nachrevolutionären Reformen ausgeschlossen. Gerade kürzlich verlängerte der 93-jährige Präsident Caid Essebsi den landesweiten Ausnahmezustand.

Der nationale Journalistenverband SNJT rief am Mittwoch zu Solidaritätsbekundungen und einem Generalstreik auf. Der Regierung vernachlässige die Korruptionsbekämpfung und den Schutz von Journalisten und habe so zu Zorguis Tod beigetragen, verkündete die SNJT auf ihrer Webseite.

Regierung spielt die Terrorismuskarte

Am Mittwochmorgen war die Lage in dem 270 Kilometer südwestlich von Tunis gelegenen Kasserine ruhig. Doch viele Beobachter glauben, dass der landesweite Gewaltausbruch in der 100.000-Einwohner-Stadt nur der Auftakt einer lange erwarteten Protestwelle ist.

Die Regierung steht unter dem Druck der Kreditgeber wie der Weltbank, die einen Abbau des aufgeblähten Staatsapparates und ein investitionsfreundliches Klima fordern. Doch Rufe nach den dringend nötigen Reformen der noch aus der französischen Kolonialzeit stammenden Bürokratie und der Polizei verhallen meist nach Anschlägen oder dem Aufdecken von radikalen islamistischen Terrorzellen.

Auch das Umland von Kasserine gilt als Rückzugsgebiet für militante Islamisten, die nachts in die Stadt kommen um sich Nachschub zu organisieren. Das Militär hat den Ort zum militärischen Sperrgebiet erklärt. „Viele Jugendliche in Kasserine haben nicht mehr das Gefühl, in Tunesien zu leben, da ihnen der Staat weder physische noch soziale Sicherheit bietet“, so der Unternehmer Mohamed Messaoui, der am Fuße der Chambi-Berge eine Fabrik leitet.

Massive Polizeipräsenz verhinderte am Dienstag in Sidi Bouzid größere Proteste. Im Geburtsort des arabischen Frühlings entdeckte die Nationalgarde nach Angaben ihres Sprechers zuvor größere Mengen von TNT und einen Sprengstoffgürtel. Man habe einen Anschlag der Gruppe „Katiba al-Jihad wa Attawid“ verhindern können. Acht Verdächtige seien festgenommen worden. Sie hätten mit ausländischen Terrororganisationen in Kontakt gestanden, so der Sprecher.

Journalisten haben meist keinen Einblick in solche Ermittlungen und die konkreten Anklagen. Regierungskritische Medien bezweifeln einige der Erfolgsmeldungen.

Unternehmer Messaoui in Kasserine fürchtet, dass die Gewalt Investoren fernhält. „Immerhin können wir Bürger unseren Frust über Korruption, Willkür und die Wirtschaftskrise nun Luft machen“, sagt er. „Aber wir bleiben Opfer dieser Spirale zwischen sozialen Unruhen und Terrorgefahr. Immer mehr Menschen geben die Hoffnung auf.“

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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