Neues Album vom Chicago Underground Trio: Dieser Jazz ist offen für alles
Seit dreißig Jahren spielen Chad Taylor und Rob Mazurek skizzenhaften Jazz. Für ihr Album „Hyperglyph“ kommen viele Gäste der Szene aus Chicago dazu.
Die Skizze ist eine passende Form für Jazz. Das Unfertige und Hingeworfene ist oft lebendiger als eine abgeschlossene Komposition. Ränder und Genregrenzen werden durchlässig, beim Hören steigt das Gefühl, in jedem Moment könnte etwas Neues hinzukommen. Ob Klangfarben, oder rhythmische und tonale Verschiebungen.
Das Chicago Underground Duo besteht im Kern aus Chad Taylor (Schlagzeug) und Rob Mazurek (Trompete plus elektronische Klangerzeugungsquellen). Seit rund 30 Jahren spielen sie skizzenhaften Jazz. Ihr Album „Hyperglyph“ ist das erste Lebenszeichen seit 2014. Musiker*innen aus der Chicagoer Szene kommen dazu, weitere Linien und Flächen bereichern das Bild. Das Kriterium fürs Zusammenspiel, laut Rob Mazurek: Es sollten Menschen sein, „offen für alles, ganz egal, wie abwegig eine Idee ist“.
Taylor und Mazurek sind zwei der umtriebigsten Musiker der Chicagoer Szene um das International-Anthem-Label. Wie keine andere steht die unabhängige Firma für nach allen Seiten hin interessierten Jazz. Im Verhältnis zu den Formationen, in denen Taylor und Mazurek sonst spielen, ist das Chicago Underground Duo so etwas wie das Laboratorium, in dem aus- und herumprobiert werden kann.
Die Musik auf „Hyperglyph“ klingt, als bestünde keine große Notwendigkeit, irgendwas zu verwerfen. Der Albumtitel verweist auf hochentwickelte, komplexe visuelle Symbole mit hoher Informationsdichte und darf programmatisch verstanden werden.
Chicago Underground Duo: „Hyperglyph“ (International Anthem/Indigo)
Der Auftakt „Click Song“ legt die Methode offen, die die meisten Stücke bestimmt: Chad Taylor spielt polyrhythmische Muster, die man mit afrikanischen Musiktraditionen assoziiert. Rob Mazurek passt meist kurze, oft äußerst expressive Trompetenlinien in das überbordende Drumming ein, die in ihrer Rohheit und manchmal auch ihrer Brüchigkeit viel vom Spiel Don Cherrys haben.
Melodische Einfachheit, die Virtuosität vermeidet und gerade darin sehr virtuos und vor allem präsent wirkt. Mit dem Titelstück und dem folgenden „Rhythm Cloth“ nimmt die Informationsdichte weiter zu. Es kommen antike Synthies, eine verzerrte Spoken-Word-Performance und ein tribalistischer Chor dazu. Alles pulsiert, und die Skizzen werden tanzbar.
Reizdichte und Leichtigkeit, Chaos und Struktur
Rob Mazurek gelingt es wie kaum einem anderen Jazztrompeter zurzeit, Gegensätzlichkeiten zu spielen und zugleich zu forcieren. Reizdichte und Leichtigkeit, Chaos und Struktur, Lounge-artiges und Freejazz-Zitate. In „Contents of Your Heavenly Body“ geht es um Körperlichkeit und Schönheit und implizit auch darum, dass die Zuschreibung, Jazz sei geschmäcklerisch und feingeistig, Blödsinn bleibt. Die Musik auf „Hyperglyph“ ist immer körperlich, egal ob sie mit Druck oder tastend und zärtlich gespielt wird.
„The Gathering“ ist mit sieben Minuten so etwas wie die Kernthese. Taylor rollt selbstvergessen in den Hintergrund gemischt über die Toms, dazu Beckengeklimper und kurze Trompetenlinien. Genau zur Hälfte des Stücks verschwindet alles, und es folgt eine Sequenz, in der ein Vibrafon und Elektronik-Gezirpe den Sound ins vollends Offene schubsen. Das vergleichsweise traditionell anmutende „Hemiunu“, in dem Klavier und Trompete um ein Motiv kreisen, holt das Album wieder auf den Boden zurück, um dann mit der „Egyptian Suite“ noch einmal abzuheben. „Suite“ täuscht ein wenig, die drei Stücke sind die fragmentiertesten und gewissermaßen am freiesten gespielten Stücke auf „Hyperglyph“.
Das Album endet im Frieden, mit „Succulent Amber“. Alles Skizzenhafte ist Ergebnis von kompositorischen Überlegungen und organisierten Improvisationen. Aber es wirkt radikal spontan. Benjamin Moldenhauer
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