Neues Buch über Marquis de Sade: Aufklärung und Sodomie

Der Marquis de Sade brachte reichlich Unmoral in die Literatur. Ein Historiker hat nun eine erfreulich nüchterne Biografie vorgelegt.

Reproduktion der Titelseite und eine Illustration aus De Sades Buch „Die Philosophie im Boudoir“. Bild: dpa

Mord legalisieren. Und das im Namen des Republikanismus! „Je mehr ein Volk den Mord schätzt, desto freier ist es“ – wer Sätze wie diese steile These zum ersten Mal unvorbereitet liest, dem kann schon ein wenig schwindelig werden.

Dass sich ihr Verfasser, Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade, der diese Idee 1795 in seinem anonym veröffentlichten Buch „Die Philosophie im Boudoir“ präsentierte, diese Forderung zu eigen machte, darf bezweifelt werden. Sein als Text im Text inszeniertes Manifest „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“, das theoretische Kernstück des Buchs, verstört dafür umso mehr, als es durchaus vernünftige Gedanken enthält wie die Abschaffung der Todesstrafe. Wäre da nicht die radikale Konsequenz, den Mord zu erlauben.

Für das Werk des „göttlichen“ Marquis, dessen 200. Todestag im Dezember ansteht, braucht man nicht nur Unerschrockenheit, um die drastischen Schilderungen von Ausschweifungen, Folterungen und Lustmorden zu ertragen. Desgleichen ist Geduld vonnöten, will man die wiederkehrenden philosophischen Diskurse bewältigen, in denen die Libertins ihr Tun mit kruden, doch oft scharfsinnigen Argumenten rechtfertigen.

Eine der größten Irritationen dieser literarischen Erkundungen des Bösen ist die ambivalente Haltung de Sades selbst. In seinem Frühwerk, dem erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Romanfragment „Die 120 Tage von Sodom“, schildert er in protokollarischer Trockenheit die immer brutaler werdende Orgie von vier „Wüstlingen“, die ihre Gewalttaten an jungen Opfern um des Bösen willen begehen und sich dabei auf ihre eigene Natur berufen, der sie bloß pflichtschuldig folgen.

Volker Reinhardt: „De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie". Verlag C. H. Beck, München 2014, 464 Seiten, 26,95 Euro

Katalog der Martern

Dieser Katalog der Martern liest sich in den Skizzen am Ende wie folgt: „114. Er bricht einem Knaben alle Glieder und flicht ihn aufs Rad, wo er ihn sterben lässt. Er ist so angebunden, daß der Hintern gut zu sehen ist, und der Wüterich lässt sich auf dem Rad den Tisch decken und nimmt da seine Mahlzeiten, bis sein Opfer ausgelitten hat. 115. Er schindet einen Knaben, reibt ihn mit Honig ein und lässt ihn von den Fliegen verzehren. 116. Er schneidet ihm den Schweif und die Brüste ab und spießt ihn auf einen Pfahl, während seine Hand auf einen anderen Pfahl gespießt ist.“

Warum schreibt jemand solche Texte, die jegliche geltende Moralvorstellung zu verhöhnen scheinen? Der Historiker Volker Reinhardt nennt in seiner Biografie „De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ verschiedene mögliche Gründe. Einer könnte Rache gewesen sein: De Sade schrieb die „120 Tage“ wie auch seine Romane „Aline und Valcour“ und „Justine“, welch Letzerer als das unmoralischste Buch aller Zeiten gilt, in Gefangenschaft. Von 1778 bis 1790 verbrachte der Marquis sein Leben auf Betreiben seiner Schwiegermutter Marie-Madeleine de Montreuil hinter Gittern. Es hatte mehrere „Affären“ gegeben, in einem Fall war es zu Profanierung gekommen war – der Marquis onanierte auf Hostien –, in einer anderen Orgie verabreichte er einer Prostituierten so viele Bonbons mit dem Aphrodisiakum Spanische Fliege, dass sie fast an einer Vergiftung gestorben wäre.

Als Aristokrat genoss er für eine Weile noch die Protektion der einflussreichen Schwiegermutter, doch als sein zügelloses Leben das Ansehen – und seine immer größeren Schulden das Vermögen – der Familie zu ruinieren drohten, sorgte die sogenannte Präsidentin dafür, dass er für unbestimmte Zeit weggesperrt wurde, statt, wie es seiner Verurteilung gemäß hätte geschehen sollen, hingerichtet zu werden. Wäre es nach de Montreuil gegangen, hätte man ihn im Gefängnis versauern lassen.

Ein „Wüstling“, aber kein Mörder

Der Marquis, den Reinhardt als aufbrausenden, empathiefreien und arroganten Vertreter des alten Adels beschreibt, der als junger Soldat viel Mut bewies und die Wuchererfamilie seiner Frau mit ihrem gekauften Adelstitel verachtete, hatte daher einigen Anlass, sich in seinen Schriften auszutoben. Die Mordfantasien, so Reinhardt, dienten als symbolische Rache an seinen Richtern und dem Teil der Familie, der ihn im Stich gelassen hatte. Dass er selbst zu sexuellen Extremen wie Auspeitschen und der damals unter Todesstrafe stehenden „Sodomie“ vulgo Analverkehr, aktiv wie passiv, neigte und vereinzelt vor potenziell tödlichen Experimenten am lebenden „Objekt“ nicht zurückschreckte, gab zugleich Anlass zu Spekulationen darüber, wie sehr sich der echte de Sade mit seinen erdichteten Folterknechten identifizierte.

De Sade hat stets darauf bestanden, dass er ein „Wüstling“, aber kein Mörder sei. Und obwohl er als materialistischer Atheist von einem leidenschaftlichen Hass auf die Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen getrieben war, hat er nie die Apologie des Bösen im Namen der Natur, die seine Romanfiguren vertreten, als eigene Position behauptet. Diese Feier der Natur diente, so Reinhardt, vielmehr dem Zweck, seinen Intimfeind, den Philosophen Jean-Jacques Rousseau, mit dessen Argumenten zu widerlegen. Während Rousseau die Natur gegenüber den schädlichen Einflüssen der Zivilisation als idealen Zustand verehrte, sah de Sade in der Natur eine Quelle von menschlichem Elend und Leid.

Als Fürsprecher der Zivilisation ist de Sade dennoch nicht zu sehen. Das Ancien Régime, in dem er aufwuchs, war für ihn genauso bigott wie das Christentum und die spätere revolutionäre Republik: Sie alle predigten die Tugend, beruhten aber auf Gewalt und Grausamkeit. Seine Schriften wollen diesen Widerspruch, dass aller offiziellen Ethik zum Trotz der Mensch voller Abgründe ist, die unerwartet aufbrechen können, bis ins Letzte durchspielen. Die Tötungsmaschinerie der Französischen Revolution etwa verabscheute de Sade zutiefst – allein, hätte er die Abschaffung der Todesstrafe nicht im Schutz der Anonymität, sondern öffentlich gefordert, hätte ihn das wohl das Leben gekostet.

Bedrohliche Fiktionen

De Sade, der wenige Tage vor dem Sturm auf die Bastille noch in deren Mauern eingesperrt war, hielt sich zugute, den Sturm auf das Gefängnis durch seine Schreie aus dem Zellenfenster – unter Zuhilfenahme eines Abortrohrs, wie Reinhardt bemerkt – herbeigeführt zu haben. Tatsächlich war er bei der Stürmung des Gebäudes kurzfristig verlegt worden. Sein anschließender Balanceakt als opportunistischer Unterstützer der Revolution, mit dem er es bis zum Richteramt brachte, hätte den heimlichen Royalisten 1794 um ein Haar unter die Guillotine gebracht. Er starb hingegen 20 Jahre später friedlich in seinem Bett.

Wie bedrohlich die Fiktionen de Sades gewirkt haben müssen, lässt sich an der Dauer des Verbots seiner Schriften ersehen – bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts durfte er nicht verlegt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem französische Philosophen wie Pierre Klossowski, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Georges Bataille, Roland Barthes und Maurice Blanchot, die sich bemühten, den Marquis als Autor und Denker salonfähig zu machen. De Beauvoir lobte den monumentalen Doppelroman „Justine und Juliette“ gar als „Offenbarung“.

Die begeisterte Aufnahme de Sades durch die Surrealisten erwähnt Reinhardt gleichermaßen wie Susan Sontags und Angela Carters positive feministische Interpretationen oder Sigmund Freuds psychoanalytische Adaption des Sadismus. Dessen triebtheoretische Fortführung durch den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan nennt er dagegen nicht einmal im Literaturverzeichnis, ebenso wenig Gilles Deleuze’ strukturalistischen Vergleich de Sades mit seinem „erotischen“ Gegenpart Leopold von Sacher-Masoch. Von dieser partiellen Voreingenommenheit abgesehen, ist Reinhardts Deutung erfreulich nüchtern. Sympathischer wird de Sade bei ihm nicht. De Sades Aktualität als verquerer Aufklärer bleibt davon unangetastet.

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