Nikolaus Kuhnert ist tot: Architekt und Aufklärer
Nikolaus Kuhnert wurde von den 68ern geprägt. Der Mitherausgeber der Zeitschrift ARCH+ war ein streitbarer Gegner neohistorischen Bauens. Ein Nachruf.
Nikolaus Kuhnert war fast ein halbes Jahrhundert lang prägende Stimme, intellektueller Motor und publizistisches Gewissen der Architekturzeitschrift ARCH+. Am 20. August ist er im Alter von 86 Jahren in Berlin gestorben.
Geboren 1939 in Potsdam, überlebte Kuhnert als Kind einer jüdischen Mutter die NS-Zeit nur knapp. Der Großvater mütterlicherseits wurde 1942 in Theresienstadt ermordet. Sein Vater, ebenfalls Architekt, hielt an der „Mischehe“ fest, verlor dadurch die Büropartnerschaft und wurde aus dem Bund Deutscher Architekten (BDA) ausgeschlossen. Ihm blieb auch die Aufnahme in die Reichskulturkammer verwehrt – ein faktisches Berufsverbot. Diese Erfahrungen verarbeitete Nikolaus Kuhnert in seiner 2019 von ARCH+ veröffentlichten Autobiografie. Darin verwob er persönliche Erinnerungen mit Architektur-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte zu einer dichten Erzählung.
Politisch geprägt wurde Kuhnert als Architekturstudent an der TU Berlin von der 68er-Bewegung, deren Radikalisierung er jedoch mit kritischer Distanz betrachtete. Das Lebensgefühl des Überlebenden machte ihn wachsam gegenüber ideologischen Verabsolutierungen – in der Politik wie in der Architektur.
Seit 1972 gehörte Kuhnert zur Redaktion von ARCH+, ab 1983 als Mitherausgeber. Unter seiner Leitung wurde die Zeitschrift interdisziplinär, streitbar und ihrer Zeit voraus – sozial und ökologisch sensibel, offen für Philosophie, Kunst und Politik. So wurde ARCH+ zum Leitmedium einer jüngeren Architektenschaft: ein unabhängiges Forum der Aufklärung, das Architektur nicht auf Stilfragen reduzierte, sondern als gesellschaftliche Praxis verstand.
ist Editor-in-Chief von ARCH+ und Vizepräsident der Akademie der Künste in Berlin
Besonders streitbar trat Kuhnert in den 1990er-Jahren auf, als nach der Wiedervereinigung in Berlin über die Baupolitik gestritten wurde. Hans Stimmanns „kritische Rekonstruktion“ und seine Hinwendung zum Neohistorismus kritisierte er als gefährliche Geschichtsklitterung: ästhetisch rückwärtsgewandt, politisch identitär aufgeladen, ökonomisch nützlich für die Finanzialisierung der Stadt.
Mit dem Heft „Von Berlin nach Neuteutonia“ (1994) dekonstruierte ARCH+ den Mythos der „Berlinischen Architektur“ und zeigte, wie diese in den Dienst einer nationalen Selbstvergewisserung gestellt wurde. Seine Warnung vor dem Populismus identitätspolitischer Architektur wirkt bis heute nach.
Kuhnert war ein eigensinniger Denker: im Privaten zurückhaltend und konfliktscheu, in der Öffentlichkeit eloquent, messerscharf, gefürchtet. Mit der sonoren Stimme des Kettenrauchers entwickelte er eine Redeweise, die sich tastend vorarbeitete, um komplexe Sachverhalte in anschauliche Erzählungen zu verdichten. Für seine Verdienste um den Architekturdiskurs erhielt er den Schelling-Preis für Architekturtheorie (1996) und den BDA-Preis für Architekturkritik (2021).
Nikolaus Kuhnert bleibt in Erinnerung als kritischer und unabhängiger Kopf, dessen Mahnung, dass Architektur immer politisch ist, aktueller denn je ist.
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