Norddeutsches Brauchtum: Der Geist des Rummelpotts

Geboren aus heidnischer Geister-Mythologie, heute Volksbelustigung der Norddeutschen am Silvestertag: Das "Rummelpott-Laufen" bleibt in Bewegung. Unser Autor entsinnt sich daran, wie er einen Gast aus den USA dazu in sein Dorf brachte.

Ein authentisches Exemplar eines Rummelpotts, auch Brummtopf genannt. Bild: Wikimedia

Einen originalen Rummelpott hatte ich angekündigt. Nur so, erklärte ich meiner US-amerikanischen Freundin, Lehrerin an einem College in Colorado, ließe sich ihr das Rummelpott-Laufen greifbar nahe bringen. Nur so könne sie ihren Schülern von diesem alten norddeutschen Brauch erzählen. Und weil es alles Originalteile sein sollten, scheiterte es schon an der Schweineblase.

Statt des irdischen Gefäßes und der Harnblase vom Schwein, die man wie ein Trommelfell darüber zieht, präsentiere ich ihr einen ausgemusterten alten Kochtopf. "Und die typischen Brummgeräusche?", fragt sie misstrauisch. Woher sollen die kommen? Ich ziehe einen Holzlöffel hervor, schäme mich, bei meiner nordfriesischen Herkunft einen alten Brauch so fahrlässig zu behandeln, versichere ihr aber, es würde ein Abend werden, den sie nie wieder vergessen würde. Ich sollte Recht behalten, nur leider aus den falschen Gründen.

Es ist früher Abend, 19 Uhr, und bevor es hinaus auf die Straße geht, verkleiden wir uns. Sie trägt dicke Schminke auf, die sie als Hexe maskiert, ich lege mir eine braune Decke als Mönchskutte um, einen Strick als Gürtel, für die Umrisse der erforderlichen Tonsur hat Mutter Natur gesorgt. Dann geht es los. Sie stopft das Blatt Papier mit dem vorbereiteten "Bettel-Gesang" auf Plattdeutsch in die Jackentasche. Ich darf den schäbigen Topf tragen.

Die ersten Kinder sind bereits seit Einbruch der Dunkelheit unterwegs. Verkleidet als Hexen, Engel oder Geister gehen sie allein oder mit ihren Eltern von Haustür zu Haustür; in der Hand eine bauchige Plastiktüte mit den erbettelten Süßigkeiten. Einen selbst gebastelten Rummeltopf allerdings werden wir an diesem Abend nur bei zwei Kindern ausmachen können, der Großteil schlägt auf eine Blechdose ein oder wie wir auf einen gewöhnlichen Topf. Aber selbst das ist die Minderheit. Der typische Rummelpott-Läufer zieht verkleidet, aber ohne Rummelpott durchs Dorf.

Dafür dröhnen die "Heische-" oder Bettellieder vor den Türen der Häuser um so lauter: "Rummel Rummel rutsche, giv mi noch een Futsche, giv mi een, bleeb ick stohn, giv mi zwee, will ick goan, giv mi drey, will ick never never wäder koom" - gereimte Strophen, die oftmals schon im Nachbardorf ganz anders klingen und doch in der Vergangenheit alle eins gemein hatten: Knechte, Kinder und Arme fragten in den Liedern nach Obst und Futjes, einem traditionellen norddeutschen Gebäck aus Pfannkuchenteig.

Der andere Krach auf der Straße, das Brummen unseres "Rummelpotts", geht laut Historikern zurück auf die heidnische Mythologie. Nach vorchristlichem Glauben vertrieb der Lärm die Geister aus den Häusern, die sich dort in den zwölf Tagen zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr einzunisten versuchten. Und auch heute zeigt das Lärmen Wirkung. Es sind allerdings die als Geister verkleideten Kinder, die nach 21 Uhr mit ihren Eltern nach Hause eilen. Vertrieben durch die Silvester-Symphonie zischender Raketen und abbrennender "Bombetten-Batterien".

Dagegen haben der fröhliche Sing-Sang verkleideter Traditionalisten und das zaghafte Brummen der wenigen Rummeltöpfe keine Chance. In den Eingängen der Häuser werden Briefkästen von "Kanonenschlägen" auseinandergerissen, Bengalische Lichter schießen auf Augenhöhe an uns vorbei. Dieser "Krieg im Dorf", wie ein älterer Bekannter die Situation auf der Straße treffend beschreibt, werde mit jeder Stunde, die man näher an Mitternacht heranrücke, bedrohlicher. Früher habe man auf unschuldigen Schabernack gebaut, erinnert er sich, etwa das Aushaken und Verstecken von Eingangspforten oder das Abmontieren von Autoreifen.

Beides, damals und heute, ist das Resultat von Korn, Likör, Sekt, Whiskey, Köm und Fruchtpunsch, der an diesem Abend neben den Süßigkeiten an den Haustüren in den mitgebrachten Tassen der erwachsenen Rummelpott-Läufer landet. Dieses ständige Durcheinandertrinken von Starkalkohol, mahnte ich vorab meine Freundin, sei schlimmer als jeder Raketenquerschläger. Eine Warnung, die sie aus touristischem Pflichtgefühl, die Einheimischen nicht kränken zu wollen, ignoriert. Höflich, wie sie ist, trinkt sie aus, was man ihr anbietet.

Gegen elf Uhr wird deutlich, dass das Getrommel auf unseren provisorischen Rummelpott mehr Böller anzieht als gastfreundliche Gaben. Unser Weg führt uns daher dorthin, wo er jeden, der an diesem Abend auf den Beinen ist, hinführt. Zu einem weißbärtigen Zimmermann, dessen Haus fast genau in der Mitte des Dorfes liegt. Versprengte Rummelpott-Läufer, böllernde Jugendgruppen, andere Zimmermänner, junggebliebene Alte, alterslose Betrunkene, sie wechseln sich ab, kommen und gehen, sitzen bei ihm um den Küchentisch herum. Draußen vor der Tür stehen Stiefel, Pantoffeln und Rücksäcke, aus denen angebrochene Raketenverpackungen ragen. Drinnen schenkt der Mann Teepunsch aus, lacht heiser und pafft knisternd selbst gedrehte Zigaretten.

Es wieselt kein Radio, kein Handy piept, stattdessen werden plattdeutsche Rummelpott-Lieder gesungen. Jeder stimmt mit ein, ob man wie mein Bekannter die Worte versteht oder wie meine Freundin eben nicht. Außer verschiedenen "Heische-Liedern" kann man dort theoretisch noch etwas anderes lernen: nicht zu jedem angebotenen "Koks" ja zu sagen, diesem "Kurzen" aus gelben Aquavit mit Kaffeebohnen und Zuckerwürfel, von dem man sich erzählt, man bekäme ihn nur bei dem weißbärtigen Zimmermann und nur zu Silvester, da er so abscheulich schmecke, dass man ihn lediglich nach einem ausgiebigen Rummelpott-Lauf trinken könne. Eine Voraussetzung, die mein Gast leider voll und ganz erfüllt.

Kurz vor zwölf torkeln wir aus dem Haus, den Rummelpott draußen vor der Tür vergessend, und schaffen es noch gerade rechtzeitig auf die Straße. Leuchtstrahlen erhellen den dunklen Himmel, Menschen liegen sich in den Armen, Korken knallen, Sektgläser klirren und Blut von der Oberlippe meiner Freundin verwischt ihre Hexen-Schminke. Langsam fließt es hinunter in ihren Mund und über die scharfe Kante eines abgebrochenen Schneidezahns. Sie ist vornübergekippt, krachte um Punkt zwölf Uhr wie eine Bahnschranke auf den Asphalt. Den Zahn finde ich nicht mehr, aber den "Rummelpott" sammle ich auf dem Heimweg auf. Sie nimmt ihn mit auf ihre Reise zurück in die USA.

Ein Zollbeamter auf dem New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen kümmert sich nicht um den alten Kochtopf, fragt aber, wem sie die verkrustete Wunde auf der Oberlippe und den ausgeschlagenen Zahn zu verdanken habe. Einem alten norddeutschen Brauch, sagt sie.

Ihren Schülern erzählt sie ausgiebig vom Rummelpott-Laufen, vom Brummtopf, den sie anhand des alten Kochtopfes erklärt, von den regional verschiedenen Gesängen, und davon, dass es an der Tür außer den üblichen Süßigkeiten auch Futjes und Schmalzbrote gibt. Vom alten Zimmermann und dass dort eine ganz eigene Tradition weiterlebt.

Dass an diesem Abend Alkohol gereicht wird, verschweigt sie. Auf die Frage ihrer Studenten, woher sie die Verletzungen habe, sagt sie, sie sei von einem Raketen-Querschläger erschreckt worden und auf der eisglatten Straße hingefallen. Der Zahnarzt modelliert ihr später einen neuen Schneidezahn. Die Narbe auf der Oberlippe ist bis heute zu erkennen..

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