Novi Sad: Protestmarsch und Gratwanderung
Junge Menschen marschieren rund 400 Kilometer – für die Opfer von Novi Sad und gegen das Regime. Sie setzen auf Vielfalt – doch blenden dabei etwas Wichtiges aus.
Vor der Kirche der Heiligen Maria im Dorf Banstol machen sich am Freitagmittag rund ein Dutzend Studierende bereit für die letzte Etappe ihres langen Marschs. Sie kommen aus Novi Pazar, einer Stadt im muslimisch geprägten Sandžak, und sind seit 16 Tagen zu Fuß unterwegs – rund 400 Kilometer durch ganz Serbien. Am Abend wollen sie Novi Sad erreichen, um dort der 16 Opfer zu gedenken, die durch den Einsturz des Bahnhofsvordachs vor einem Jahr ums Leben gekommen sind.
Die 20-jährige Fazila sitzt auf einem Karton vor der Kirche und lächelt müde: „Ich habe nur ein paar kleine Blasen, nichts Schlimmes.“ Sie ist seit Beginn des Marsches dabei. „Wir laufen 16 Tage für die 16 Opfer“, sagt sie. Ihre Kommilitonin Semiha, 22, ergänzt: „Ich will in einem freien Land leben, dafür laufe ich.“ Ein paar von ihnen sitzen auf Kartons auf dem Rasen und schütten Anti-Blasen-Puder auf ihre Füße. Andere praktizieren – vor der serbisch-orthodoxen Kirche – noch das muslimische Freitagsgebet, bevor es weitergeht.
Vor zwei Tagen liefen sie durch Belgrad. „An einem neuen Ort anzukommen, war jedes Mal schön“, sagt Fazila, „aber die Hauptstadt, das war etwas Besonderes.“ Tausende hätten sie empfangen, sogar ein Feuerwerk sei gezündet worden. Ein Zbor – das sind Nachbarschaftsräte, die sich während der Proteste gebildet haben – schenkte allen neue Laufschuhe. Sie erwarteten die Marschierenden in der richtigen Größe, in Schuhkartons mit ihren Namen drauf. Fazila trägt diese Schuhe auf den letzten Kilometern. In den Orten, durch die sie laufen, werden sie wie Befreier empfangen. Viele nennen sie tatsächlich so – Befreier.
Dreißig Jahre nach dem Krieg zeigen junge Muslime, dass sie ein Teil Serbiens sein wollen – als Studierende, als Bürger*innen, als Teil der Protestbewegung. „Das bedeutet Zusammenhalt und Liebe“, sagt Fazila. „Dass wir die Vorurteile überwunden haben, die uns aufgebürdet wurden.“
Gewaltige Erwartungen
Doch die Erwartungen an die Gruppe sind gewaltig. Die Studierenden sollen Serbien aus der autokratischen Herrschaft von Aleksandar Vučić befreien, Demokratie und Rechtsstaat bringen – und nebenbei das Verhältnis zwischen der serbisch-orthodoxen Mehrheit und der bosniakisch-muslimischen Minderheit heilen. In eine verhältnismäßig kleine Gruppe wird die große Hoffnung auf eine nationale Katharsis projiziert. Und das in einem Land, das seine Kriegsverbrechen nie ehrlich aufgearbeitet hat und in dem die Erzählung fortlebt, alle Seiten seien gleichermaßen Opfer gewesen.
Als die Gruppe nach zehn Kilometern in der Kleinstadt Sremski Karlovci Rast macht, stehen schon Tische mit Essen und Getränken bereit. Die Bewohner*innen haben weit mehr vorbereitet, als die Marschierenden essen und trinken können. Doch es geht weniger um Verpflegung als um Solidarität und darum, Teil dieses Aufbruchs zu sein.
Viele wollen ein Foto mit der Studentin, die meist vorne läuft: Sie trägt Hidschab und die serbische Flagge. Neben ihr wird die Flagge des Sandžak getragen – grün mit drei Halbmonden und blau mit drei Lilien. Dieses Bild ist in serbischen sozialen Medien zum Symbol geworden.
Ein anderes Foto, das viral ging, zeigt die Studentin mit dem Hidschab und einem Veteranen, auf dem sie sich in den Armen liegen und in die Augen blicken. Biker und Veteranen organisieren den Schutz für die Studierenden. Einer von ihnen ist Stanislav Racić, ehemaliger Soldat im Kosovo-Krieg. Er läuft die letzten Kilometer bis Novi Sad mit der Gruppe mit. „Serbien ist auch das Land der Muslime aus Novi Pazar“, sagt er. „Wir dürfen uns nicht weiter teilen lassen. Wir müssen die Vergangenheit hinter uns lassen.“
Das Dilemma der Bewegung
Damit spricht er aus, was die Studierenden der serbischen Mehrheitsbevölkerung anbieten: Versöhnung – ohne ehrliche Aufarbeitung. Das ist eine Gratwanderung, denn auch Nationalisten prägen die Proteste; „Kosovo ist Serbien“-Flaggen wehen bei fast jeder Demonstration. Als Studierende aus Novi Pazar ein Gedenken an den Genozid von Srebrenica vorschlugen, lehnten andere Fakultäten ab. Damit bringe man in Serbien zu viele Menschen gegen sich auf – und man brauche alle an Bord.
Ein Symbol für diese Vielfalt ist die besetzte Universität in Novi Pazar geworden. Am 12. April riefen die Studierenden landesweit zu einer Großdemo dorthin auf und viele folgten. Die Strategie der Bewegung: rechte und linke Stimmen, Mehrheitsbevölkerung und Minderheiten gemeinsam mobilisieren, um Neuwahlen zu erzwingen und diese mit einer studentischen Liste zu gewinnen. Derzeit traut sich kaum jemand aus der politisch vielfältigen Opposition gegen Vučić, Kritik an den Studierenden zu üben und schon gar nicht, niedere Ressentiments gegen die Studierenden aus Novi Pazar zu mobilisieren. Es ist unwahrscheinlich, dass so eine Allianz hält, wenn der gemeinsame Gegner einmal verschwunden ist.
Es ist längst dunkel, als die Gruppe ihr Ziel erreicht. Über dem Tunneleingang leuchtet in kyrillischen Lettern: „Novi Sad“. Mittlerweile sind Dutzende von Menschen dazugekommen; die Kolonne wird von Kamerateams begleitet, flankiert von Motorradfahrern, die ihre Motoren aufheulen lassen. „Wir sind nicht müde, Müdigkeit kennen wir nicht“, singen sie – ein Lied, das eher trotzig als wahr klingt.
Am Liman-Park in Novi Sad wartet wieder eine riesige Menschenmenge. Feuerwerk erhellt den Himmel, Bengalos tauchen die Szenerie in roten Rauch. Dann der unerwartet intime Moment zwischen zwei der Marschierenden aus Novi Pazar: Danis kniet sich hin, hält Džejla einen Ring hin, fragt, ob sie ihn heiraten will. Sie sagt Ja. Konfetti fliegt, der Rauch färbt die Nacht rot, und die Menge jubelt. Danis und Džejla wollen in Serbien bleiben und dafür kämpfen, dass es ein Land für all seine Bürgerinnen und Bürger wird.
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