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Berlin

Obdachlose in Berlin "Tische nur für Rumänen"

Die Zahl der obdachlosen EU-Bürger in Berlin steigt. Das stellt die Hilfseinrichtungen vor neue Probleme.

Ein Obdachloser bittet um Almosen auf einem Weihnachtsmarkt. Bild: dpa

taz: Frau Reichenbach, warum gibt es immer mehr Obdachlose aus neuen EU-Ländern?

Marie-Therese Reichenbach: Viele kommen hierher, um Arbeit zu suchen, verbrauchen ihre knappen Ersparnisse und landen auf der Straße. Ohne Wohnung finden sie keinen legalen Job und ohne Job keine Wohnung. Dieses Problem haben einheimische Obdachlose nicht: Zumindest theoretisch hat jeder deutscher Staatsbürger einen Rechtsanspruch auf ein Dach über dem Kopf. In 90 Prozent der Fälle taucht bei der Beratung von EU-Bürgern dann die Frage auf: Wie bekomme ich eine polizeiliche Anmeldung? Migranten verkaufen einander polizeiliche Anmeldungen – das ist natürlich illegal – und hoffen dann, über Kontakte irgendwie einen Job zu bekommen, was einigen auch gelingt.

Viele Hilfseinrichtungen klagen über einen hohen Migrantenanteil. Wo liegen hierfür die Ursachen?

In Notübernachtungen, Nachtcafés oder Suppenküchen gibt es oft Kommunikationsprobleme, zum Teil sprachlich bedingt. Die Menschen fühlen sich diskriminiert – übrigens beide Seiten. Die deutschen Obdachlosen fühlen sich verdrängt, und Menschen, die wenig Deutsch können, beschweren sich: „Hier kriegen alle frische Socken, und wenn ich was will, kriege ich nichts, weil ich aus Lettland oder aus Polen komme.“ Bei Menschen in Notsituationen sollte die Staatsangehörigkeit keine Rolle spielen.

Aus Sicht der Hilfseinrichtungen ist die Staatsangehörigkeit aber wichtig.

Ja, EU-Migranten kommen zum Beispiel nicht in Wohnprojekte für Obdachlose rein, weil für sie niemand die Finanzierung übernimmt. Sie sind auf sogenannte niedrigschwellige Einrichtungen wie Nachtasyle angewiesen, weil sie keinen Hartz-IV-Anspruch haben, wenn sie hier nicht zuvor offiziell erwerbstätig gewesen sind. Halten sie sich länger als drei Monate in Deutschland auf, gibt es immerhin eine Chance, vor Gericht sozialrechtliche Ansprüche durchzusetzen. Die Rechtslage ist nicht nur in Deutschland umstritten.

Was hat das zur Folge?

Aus britischen Studien wissen wir, dass Migranten aus Mittelosteuropa viel schneller verelenden als Einheimische, obwohl sie persönlich viel stabiler sind. Sie sind auch höher qualifiziert und seltener von psychischen Erkrankungen betroffen. Am Ende nützt das wenig, weil sie sozialrechtlich von vielen Integrationsangeboten ausgeschlossen werden. Das verursacht horrende Kosten: Notfallmaßnahmen, etwa Krankenhausaufenthalte von nicht krankenversicherten EU-Migranten, wären nicht nötig, lebten die Menschen nicht auf der Straße.

Am 1. Januar dieses Jahres ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien in Kraft getreten. Rechnen Sie deshalb mit mehr Obdachlosen aus diesen Ländern?

Ich gehe davon aus, dass der Anteil sich nicht entscheidend erhöhen wird. Es wird stark mit Ängsten gearbeitet, selbst in Fachkreisen. Manche Einrichtungen überlegen sich diverse Abschottungsstrategien, wie Kontingentierungen nach Nationalität. Mancherorts gibt es bereits Tische, die nur von Rumänen oder Bulgaren benutzt werden sollen.

Wie erklären Sie sich solche drastischen Reaktionen?

Aus meiner Sicht zeugen sie von Hilflosigkeit. Wenige Einrichtungen haben Mitarbeiter, die sich überhaupt mit den Migranten in ihrer Muttersprache verständigen können, sie werden nur noch als eine gesichtslose Masse wahrgenommen. Es lohnt sich, den Fokus von den Obdachlosen auf die Mitarbeiter zu verschieben. Sie sind ja nicht unfähig oder inkompetent. Wenn wir mit Einrichtungen zusammenarbeiten, versuchen wir, den Blick auf die Migranten zu verändern. Sie sollen wieder als Individuen wahrgenommen werden.

Dieser Text ist Teil eines Schwerpunkts über Obdachlose in Berlin in der Wochenendausgabe der taz.berlin. Am Samstag am Kiosk oder in Ihrem Briefkasten.