Opfer der IS-Terrorherrschaft: Ein Leben nach der Gefangenschaft

1.000 Jesidinnen hat Baden-Württemberg 2015 aus dem Irak nach Deutschland geholt. Nun zieht das Land Bilanz – und stellt neue Pläne vor.

Portraitaufnahme von Salwa Rasho, Jesidin und IS-Überlebende

Den Dschihadisten des „Islamischen Staats“ entkommen: Die Jesidin Salwa Rasho aus dem Irak Foto: dpa

STUTTGART taz | Man habe ihr als Kind viel von den Genoziden am jesidischen Volk erzählt, berichtet Salwa Rasho am Mittwoch in Stuttgart. Dann habe sie 2014 selbst erlebt, was es bedeutet, wenn Verwandte und Freunde getötet werden. Die junge Jesidin, die aus der irakischen Stadt Sindschar stammt, lebte acht Monate in Gefangenschaft des sogenannten Islamischen Staats (IS), bevor sie 2015 mit dem Sonderkontingent der Landesregierung Baden-Württembergs aus einem kurdischen Flüchtlingslager nach Deutschland gebracht wurde. Nun stellte das Land eine erste Evaluation dieses ungewöhnlichen humanitären Programms vor.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) war 2014 bei Treffen des Migrationsrats auf das Leid der Jesiden im Nord­irak aufmerksam geworden. Da­rauf­hin entschied sich die damals grün-rote Landesregierung, insgesamt 1.000 Frauen und Kinder aufzunehmen und dezen­tral in Städten und Kommunen in dem Land unterzubringen. Unter ihnen war auch die heutige Nobelpreisträgerin Nadja Murat.

Jetzt, vier Jahre später, stellte das Land eine Studie über Erfolge und Erfahrungen dieses Kontingents vor – und präsentierte weitere Pläne. Man sei im Gespräch mit der Bundesregierung, damit Deutschland ein weiteres Kontingent von Frauen aufnimmt, die Kinder aus Zwangsehen mit IS-Kämpfern geboren hätten und deshalb nicht mehr auf Wiederaufnahme in die jesidische Gemeinschaft hoffen könnten, sagte Kretschmanns Staatsministerin Theresa Schopper. „Ich freue mich sehr, dass dieses Projekt von SPD und CDU im Bundestag unterstützt wird.“

Schopper hob vor allem den Vorbildcharakter des Programms hervor: Nicht nur seien Schleswig-Holstein Niedersachsen und Brandenburg dem Beispiel Baden-Württembergs gefolgt und hätten noch einmal 170 Jesidinnen nach Deutschland geholt; auch Kanada, Frankreich und Australien hätten große Kontingente aufgenommen.

Immer noch traumatisiert

Florian Junne, Psychiater am Uniklinikum Tübingen, hat 116 der Frauen befragt. Er berichtet, dass 90,5 Prozent von ihnen heute zufrieden seien mit ihrer Situation, auch wenn die meisten von Ihnen noch immer unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Problematisch sei, dass die Frauen immer wieder retraumatisiert würden, etwa durch Nachrichten ihrer Familien und Filme aus dem Kriegsgebiet, die sie über sozia­le Netzwerke ­erreichen.

Die meisten Frauen seien heute zufrieden. Ein Problem sei aber Retraumatisierung

Wichtig sei für viele Frauen ihre Religion. 83 Prozent der befragten Frauen hätten Beten als wichtige Form genannt, das Erlebte zu bewältigen. Erst danach komme die Gemeinschaft und professionelle psychologische Hilfe.

Insgesamt gebe es Erfolge bei der Integration der Frauen und Kinder in zahlreichen Kommunen des Landes zu vermelden, so Schopper. Viele hätten Arbeit gefunden oder absolvierten Praktika. Aufenthaltsgenehmigungen und die weitere psychologische Betreuung garantiert das Land, ansonsten seien die Frauen frei in der Gestaltung ihres Lebens. Nur 24 von ihnen seien bisher in ihre Heimat zurückgekehrt.

Über die Zeit beim IS möchte Salwa Rasho auch heute noch nicht öffentlich sprechen. Nur so viel sagt sie: „Ich habe damals alle meine Träume verloren.“ Nun, vier Jahre später, träumt sie wieder. Sie wolle besser Deutsch lernen und vielleicht später im sozialen Bereich arbeiten, sagt sie. Im Moment arbeite sie immer wieder zeitweise in irakischen Flüchtlingslagern mit Kindern, die vom IS gefangen gehalten wurden. Davor hat sie in 20 Ländern der Welt über die Situation der Jesiden berichtet. Es scheint, als habe sie nach all dem Leid ein neues Leben begonnen.

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