Organisierte Kriminalität: „Deutschland hinkt hinterher“

Die Bundesländer sollten eigenständig Menschenhandel und Korruption bekämpfen, sagt der Grünen-Europa-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht.

Mit der Zusammenarbeit ists nicht immer weit her: Ermittler des LKA Niedersachsen bei einer Razzia im Walsroder Rotlichtmilieu. Bild: dpa

taz: Herr Albrecht, der CRIM-Report hat viele durch eine Zahl geschockt: Es gibt demnach in der EU 880.000 ZwangsarbeiterInnen.

Jan Philipp Albrecht: Die Zahlen haben wir im Sonderausschuss als Basis gebraucht, die hat das Europäische Parlament nicht selbst recherchiert. Wir haben sie von der ILO, also der Internationalen Arbeitsagentur, übernommen.

Im Vergleich zu bisherigen Angaben wirken sie extrem hoch. So sprach etwa das Bundesinnenministerium für das Jahr 2011 von 640 Fällen der Zwangsprostitution. Das ist zwar nur eine nationale Zahl aus einem prominenten Teilbereich – aber von dort zur einer knappen Million?

Zahlen aus solchen Dunkelfeldern sind immer mit Vorsicht zu genießen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die tatsächlichen Zahlen deutlich höher sind, als das, was etwa die Bundesregierung erfasst. Allein, weil in diesem Bereich so viel unermittelt bleibt.

Inwiefern?

Der 87-köpfigen Sonderausschuss über organisiertes Verbrechen, Korruption und Geldwäsche (CRIM), den das Europäische Parlament im März 2012 einsetzte, entwirft anhand eines Lagebildes Maßnahmen zur Bekämpfung organisierter Kriminalität.

Diese liegen teils im Bereich der Einzelstaaten, teils im Bereich von Gemeinschaftsinstitutionen wie Europol, Eurojust, aber auch der Grenzschutzagentur Frontex.

Der CRIM-Report, den Salvatore Iacolino von der rechtspopulistischen Popolo della libertà (Italien) am 22. Oktober ins Plenum des Europaparlaments einbrachte, war in Strasbourg Gegenstand einer ungewöhnlich kontroversen Debatte. In ihrem Verlauf wurde das ursprünglich von der Ausschussmehrheit befürwortete Sammeln von Flugpassagier-Daten aus dem Maßnahmenkatalog gestrichen.

Die beschlossene Version findet sich auf der schwer navigierbaren Internetseite des EU-Parlaments auch auf Deutsch:

europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2013-0444+0+DOC+XML+V0//DE

Nötige Ermittlungen werden oft gar nicht aufgenommen, weil Polizei und Justiz erst ab der Grenze tätig werden. Genau darum geht es ja im Bericht: darzustellen, wo die Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität liegen. Also vor allem Steuerbetrug, Korruption, Geldwäsche – und eben Menschenhandel –, gegen die stärker gemeinsam vorgegangen werden müsste.

Mit Akzent auf „gemeinsam“?

Ja. Wir brauchen gemeinsame Verfahrensregeln, um komplexe, grenzübergreifend organisierte Kriminalität bekämpfen zu können.

Es hapert bislang bei der Zusammenarbeit?

Ein gutes Beispiel dafür ist der Fall von Frank Hanebuth…

… dem Hell’s-Angels-Boss aus Hannover, der auf Mallorca festgenommen wurde.

Da hatten die spanischen Behörden Rechtshilfe beantragt – und die niedersächsischen haben das Ansinnen zurückgewiesen. Das größte Hindernis war, dass nicht geklärt werden konnte, welche Verfahrensstandards denn nun gelten. So lässt sich organisierte Kriminalität nicht effektiv bekämpfen.

Und im föderal gegliederten Deutschland wird es gleich doppelt schwer?

Die Zusammenarbeit in Deutschland ist sicher noch eine eigene Frage. Aber das größere Problem ist die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten. Oft will man offenbar nicht glauben, dass es im Nachbarland gleichwertig arbeitende Behörden gibt.

Das Ziel des CRIM-Berichts ist dabei eine Harmonisierung des strafrechtlichen Rahmens. Zugleich gibt es aber gerade in diesem Feld auf Länderebene den Trend, selbst aktiv zu werden: Schleswig-Holstein hat seit Januar eine neue Anti-Korruptionsrichtlinie, Bremen bastelt derweil an einem eigenen Prostitutionsgesetz.

Wo ist das Problem? Das Europaparlament hat nicht den Anspruch, alles ins Detail zu regeln. Unser Anspruch ist, dass man zur Umsetzung der gemeinsam verabschiedeten Rahmenbedingungen kommt.

Aber schadet so ein föderales Flickwerk dabei nicht?

Das kann ich nicht erkennen. Wenn die Bundesregierung untätig bleibt…

… wieso untätig?

Deutschland hinkt infolge einer einseitigen Fokussierung auf Terrorbekämpfung bei Fragen der organisierten Kriminalität hinterher: Beim Menschenhandel-Opferschutz sind die einschlägigen EU-Richtlinien noch nicht umgesetzt, die Anti-Korruptionskonvention der UN hat man noch nicht ratifiziert – da wäre so Einiges noch zu tun. Insofern ist es absolut richtig, wenn einzelne Bundesländer die Initiative ergreifen. Das nutzt dem gemeinsamen Ziel. Die EU-Staaten müssen da nämlich jetzt allmählich liefern.

Indem sie Verfahren zur Erfassung von Fluggastdaten entwickeln?

Nein, ganz sicher nicht.

Hatte der CRIM-Bericht aber empfohlen!

Das ist richtig, das war von der konservativen Seite gefordert – und wir sind froh, dass es uns als grüner Fraktion gelungen ist, das Plenum vor der Abstimmung am Freitag zu überzeugen, diesen Passus rauszustreichen.

Das klingt wie ein Widerspruch – Sie wollen doch organisierte Kriminalität bekämpfen.

Das ist es aber nicht. Es ist ein Irrglaube, dass mehr Repression und mehr Überwachung das Fehlen einer gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung kompensieren würden: Das Problem ist, dass die bestehenden Möglichkeiten nicht effektiv genutzt werden. Oft genug gelingt es nicht einmal, den Telefonhörer auf der einen Seite der Grenze abzuheben und auf der anderen Seite anzurufen, um eine Information zu erfragen.

Wäre das per Dekret zu regeln?

Die konkrete Zusammenarbeit von Polizei und Justizbehörden muss gestärkt werden. Das hat der Bericht auch klar herausgearbeitet: Es geht um gemeinsame, europäische Ziel und Prioritätensetzungen, und eben nicht darum, die Bürgerrechte weiter zu beschneiden und viel Geld in neue Überwachungsinfrastrukturen zu stecken.

Im Report wird vorgeschlagen, im Kampf gegen den Menschenhandel die eigenen Grenzschützer besser auszustatten. Bedeutet das nicht im Klartext: Frontex soll die Flüchtlinge noch effektiver als bisher zurück ins Meer treiben?

Wenn damit gemeint wäre, das weiter zu betreiben wie bisher, wäre es die falsche Richtung. Aber dahinter steckt auch die Idee, die Ressourcen dafür zu nutzen, den Flüchtlingen die Menschenrechte zukommen zu lassen, die wir als EU ständig vor uns her tragen.

30, seit 2009 für die Grünen im Europaparlament.

Der jüngste deutsche Europaabgeordnete ist Mitglied des Innen und des CRIM-Sonderausschusses sowie stellvertretendes Mitglied des Rechtsausschusses.

Albrecht ist Berichterstatter für die in Arbeit befindliche Datenschutz-Grundverordnung und regional für Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zuständig.

Und der Grenzschutz unterscheidet dann sauber zwischen humanitären Fluchthelfern und kriminellen Schleppern?

Der Kampf gegen Menschenhandel sollte nicht dazu dienen, irreguläre Migration zu verhindern. Und der Vorrang müsste hier aus grüner Sicht deutlicher artikuliert werden: Im jetzigen Europaparlament gibt es dafür aber keine Mehrheit.

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