Organspenden in Deutschland: Nieren bleiben rar

Die Zahl der Organspenden in Deutschland stagniert trotz eines Pilotprojekts, das Transplantationsbeauftragte in Kliniken schickt. Dennoch soll es für viel Geld fortgesetzt werden.

Nierentransplantation am Universitätsklinikum Jena. Bild: dpa

Es war ein bewegender Auftritt, den Günter Kirste, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), den Mitgliedern des Gesundheitsausschusses im Bundestag am 29. Juni in Berlin bot. "Das Potenzial an Organspendern in Deutschland", hob Kirste an, "liegt bei 40 Spendern pro eine Million Einwohner." Kirste machte eine Pause, damit die Zahlen bei den Zuhörern sacken konnten. 40 pro eine Million!

Derzeit liegt die Organspenderate bei knapp 15 pro eine Million Einwohner und erreicht damit nur unteres europäisches Niveau. Rund 12.000 Menschen warten auf eine Lunge, ein Herz oder eine Niere. Weil die Nachfrage aber das Angebot bei Weitem übersteigt, sterben täglich drei von ihnen. Der Gesundheitsausschuss hatte daraufhin Experten eingeladen, die erklären sollten, mit welchen gesetzlichen Änderungen dem Organmangel zu begegnen sei. Kirste hat qua Amt das Monopol für Leichenorgane und den wohl besten Überblick über die Spenderzahlen in Deutschland.

"Eine Bedarfsdeckung wäre möglich", versprach er und verriet auch gleich die Wunderwaffe hierfür: Inhousekoordinatoren. Das sind Ärzte, die es in Deutschland bislang nur in einem von der DSO finanzierten, Anfang 2010 gestarteten Pilotprojekt an 112 Krankenhäusern gibt. Künftig allerdings sollen sie möglichst flächendeckend an allen 1.260 Häusern mit Intensivbetten installiert werden.

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation ist eine gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie verantwortet laut Transplantationsgesetz die Durchführung sämtlicher Organentnahmen bundesweit. Finanziert wird sie von den gesetzlichen Krankenkassen. Ihr Budget richtet sich nach der zu erwartenden Anzahl der transplantierten Organe und beträgt 2011 etwa 44,6 Millionen Euro. Den Krankenhäusern vergütet die DSO den Aufwand pauschal.

Die DSO unterliegt der Stiftungsaufsicht des Landes Hessen. Ein Stiftungsrat sowie ein Wirtschaftsprüfer kontrollieren die nichtstaatliche Organisation.

Inhousekoordinatoren hätten, betonte Kirste, idealerweise schon auf Intensivstationen gearbeitet, seien also erfahren im Umgang mit dem Hirntod, der ja die Voraussetzung jeder Organspende sei. Zudem sollten sie die enge Zusammenarbeit verantworten zwischen ihrem Krankenhaus und der DSO - auf dass jede potenzielle Organspende erkannt und realisiert werde.

Darin schwang ein Vorwurf mit, den Kirste und sein kaufmännischer Vorstandskollege Thomas Beck seit Monaten verbreiten: Viele Klinikärzte, obschon gesetzlich dazu verpflichtet, der DSO jeden geeigneten Spender zu melden, machten ihren Job schlecht. Aus Überforderung, unzureichender Kenntnis der Hirntoddiagnostik oder schlicht mangelndem Kooperationswillen. Viele Organe gingen so trotz Spendebereitschaft verloren.

Palliativmedizin bevorzugt

Das Gegenteil ist der Fall. Es ist weder den Krankenhausärzten noch ihrer vermeintlichen Wurstigkeit anzulasten, dass die Spenderaten sinken. Das geht aus einem vertraulichen Zwischenbericht "Inhousekoordination bei Organspenden" hervor, den das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) zur Auswertung des DSO-Pilotprojekts jetzt im Auftrag der DSO erstellt hat: "Des Weiteren zeigt die Inhousekoordination eindeutig, dass die im internationalen Vergleich unterdurchschnittlichen Spenderraten in Deutschland nicht auf unzureichende Meldungen potenzieller Spender durch die Krankenhäuser zurückzuführen sind", heißt es in dem 164 Seiten starken Gutachten, das der taz vorliegt.

Vielmehr gründen die rückläufigen Spenderzahlen dem Gutachten zufolge erstens auf den zunehmenden Ablehnungen, bekundet durch entsprechende Patientenverfügungen oder durch Angehörige. Zweitens steige die Zahl sogenannter "Therapielimitierungen", also die Entscheidung von Ärzten und Patienten, Todgeweihte lieber palliativmedizinisch statt intensivmedizinisch zu versorgen -weswegen sie anschließend als Organspender ausscheiden. Drittens seien viele Spenderorgane einfach ungeeignet für eine Transplantation, etwa weil sie tumorös sind.

Die Inhousekoordinatoren hätten zwar geholfen, krankenhausinterne Abläufe zu verbessern, etwa bei der standardmäßigen Erfassung der Todesfälle mit Hirnschädigung, loben die Gutachter. Sie hätten auch dazu beigetragen, das Bewusstsein unter den Kollegen für die Organspende zu steigern sowie das Organspendepotenzial genauer zu analysieren. Ihr eigentliches Ziel aber - "die Spenderzahlen in den Projektkrankenhäusern zu steigern" - hätten sie verfehlt, heißt es in dem Bericht.

Verglichen mit herkömmlichen Kliniken hätten die Krankenhäuser mit Inhousekoordinatoren nicht besser abgeschnitten, was die Zahl der faktisch realisierten Organspenden angehe: "Des Weiteren lässt sich für die Inhousekoordination keine eindeutige ,Lernkurve' nachweisen derart, dass die Spendermeldungen an die DSO bzw. die realisierten Organspender im Projektverlauf sukzessive steigen."

800 Euro monatlich pro Koordinator

Selbst unter Idealbedingungen dürfte sich an dieser Tendenz wenig ändern, prognostizieren die Gutachter: Wenn man alle Todesfälle mit Hirnschädigung berücksichtige, könnten die Spenderzahlen zwar rein theoretisch maximal um 30 Prozent höher sein als bisher. Das setze allerdings voraus, dass bei allen Hirngeschädigten anschließend auch tatsächlich der Hirntod eintrete, alle der Organentnahme zustimmten und weder Kontraindikationen noch Therapielimitierungen bestünden. Eine utopische Vorstellung, bescheiden die Gutachter: Es "ist […] festzuhalten, dass die faktisch zu realisierenden zusätzlichen Spender […] nicht ausreichen würden, um die Spenderzahlen in Deutschland dem europäischen Durchschnitt oder gar dem europäischen Spitzenniveau anzugleichen."

Damit aber stellt sich die Frage nach der Legitimation der Inhousekoordinatoren. Deren Tätigkeit wird derzeit immerhin mit 800 Euro monatlich pro Koordinator von der DSO unterstützt. Mindestens 2 Millionen Euro sind nach Recherchen der taz bereits in das Pilotprojekt geflossen, eine Weiterführung und -finanzierung für das Jahr 2012, also weit über das eigentlich avisierte Projektende (Dezember 2011) hinaus, ist nach Angaben der Krankenkassen geplant, ebenso eine Festschreibung im Transplantationsgesetz, das derzeit reformiert wird.

Hochgerechnet auf alle 1.260 Krankenhäuser mit Intensivbetten wären das Zusatzkosten von rund 12 Millionen Euro jährlich, zu bezahlen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Und das, obwohl das eigentliche Ziel nicht mal ansatzweise erreicht wird.

Wie kann so ein Flop passieren?

Wie so ein Flop passiert? Vergleichsweise einfach, berichtete ein knappes Dutzend aktueller und ehemaliger DSO-Mitarbeiter der taz. Die Weise, mit der das Pilotprojekt gegen Zweifel und Widerstände vieler Beschäftigter durchgedrückt worden sei, sei nur ein Beispiel für die "Gutsherrenart", "Beratungsresistenz" und "Intransparenz", mit der die DSO-Vorstände Günter Kirste und Thomas Beck die Stiftung nach innen regierten. Die Idee für die Inhousekoordinatoren sei Kirste und Beck vermutlich auf einer ihrer zahlreichen Dienstreisen gekommen - in Spanien, Europas Organspende-Spitzenreiter mit 34 Spendern pro eine Million Einwohner.

"Ich", sagt ein Vertreter des DSO-Beirats, der die Stiftung fachlich berät, "habe von Anfang an gesagt, dass die Inhousekoordinatoren bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein sind."

Die spanischen Verhältnisse seien nicht übertragbar: Dort gebe es im Unterschied zu hier eine zentralisierte Krankenhauslandschaft, einen großen gesellschaftlichen Konsens und religiösen Rückhalt sowie eine geradezu sensationelle Gesetzeslage: Wer in Spanien zu Lebzeiten nicht aktiv widerspricht, gilt nach dem Tod automatisch als Organspender. In Deutschland dagegen muss man zu Lebzeiten explizit zugestimmt haben; das Parlament will die Nachfragen hierzu demnächst intensivieren. "Weil wir als Fachbeirat aber keine kontrollierende Funktion haben", sagt das kritische Mitglied, "wurde der Einwand als Einzelmeinung verbucht."

"Da wird kein Tacheles geredet"

Und diejenigen, die kontrollieren müssten, schweigen: Dabei sitzen im elfköpfigen Stiftungsrat, dem Aufsichtsgremium über Deutschlands zentrale Organspendeorganisation, neben Transplantationsexperten immerhin auch je zwei Vertreter der Kassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Bundesärztekammer. Allein: "Da wird kein Tacheles geredet", sagt ein frustriertes Exmitglied. Vielleicht auch, weil die Distanz, die die Kontrolleure gegenüber dem DSO-Vorstand wahren sollten, mitunter fragil wirkt.

Am Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf beispielsweise wurde im Rahmen des Pilotprojekts ein Inhousekoordinator auf einer halben Stelle beschäftigt - bezahlt aus DSO-Mitteln. In den meisten anderen Krankenhäusern erhielten die Koordinatoren dagegen nur eine Pauschale von 800 Euro. Warum? "Das war einfach ein Angebot der DSO", erklärt Björn Nashan, Professor für Transplantationschirurgie. Zufällig ist Nashan auch Mitglied im Stiftungsrat.

Eine Teilzeitstelle finanzierte die DSO auch mal am Lehrstuhl des Strafrechtsprofessors Hans Lilie in Halle. "Die DSO hatte damals noch keinen eigenen Justiziar", sagt Hans Lilie heute. Weswegen sein Lehrstuhl die DSO mit Rechtsgutachten unterstützt habe. Inzwischen ist Lilie Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, die Empfehlungen zu Organspende gibt und Parlamente wie Regierungen berät. Seither, so Lilie, finanziere die DSO keinen Mitarbeiter.

Anfang Oktober, als sich das Scheitern des Pilotprojekts "Inhousekoordination" abzeichnete, platzte einigen DSO-Mitarbeitern der Kragen. In einem offenen Brief an den DSO-Stiftungsrat, den Bundesgesundheitsminister sowie zahlreiche Bundestagsabgeordnete mahnten sie Konsequenzen an: "Außer dem Vorstand und den geschäftsführenden Ärzten glaubt schon lange kein Mitarbeiter mehr an das Projekt", schrieben die anonymen Absender.

Der Bundesgesundheitsminister bat daraufhin die zuständigen Gremien "um schnelle Prüfung"; der Stiftungsrat kündigte an, den Vorwürfen nachzugehen. Ergebnisse liegen bis heute nicht vor.

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